Bergbau im Zweiten Weltkrieg Als die Nazis 30.000 Menschen in der Tiefe ermorden wollten
Der Steinkohlebergbau in Deutschland endet. Zeit, ein erschütterndes Kapitel dieser Geschichte in Erinnerung zu rufen: den geplanten Massenmord an Zehntausenden Wehrlosen.
Hatten sowjetische und polnische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter in Nazi-Deutschland je Überlebenschancen? Nur wenige. Allein 3,3 Millionen Rotarmisten kamen in deutscher Kriegsgefangenschaft während des Zweiten Weltkriegs um – durch Hunger und Auszehrung, Schläge und Schüsse und in den Gaskammern der deutschen Konzentrationslager. Doch kaum jemand weiß: Das, was die NS-Führung im März 1945 wenige Tage vor dem Einmarsch der 9. amerikanischen Armee in zwei Schachtanlagen des Ruhrgebiets plante, wäre bei einer erfolgreichen Umsetzung ein weiteres brutales Massaker an diesen Menschen gewesen.
Ganz im Süden Dortmunds, an der heutigen Autobahn A 45, war der Tatort dafür schon ausgesucht. 30.000 Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene – alles Menschen, die bis dahin in der Schwerindustrie des Ruhrgebiets arbeiten mussten oder im Gefangenenlager Stalag 6d nahe dem heutigen Westfalenstadion dahin vegetierten – sollten hier sterben.
Geplanter Tod durch Ersticken
All das nach dem Willen des Gauleiters und Reichsverteidigungskommissars West, Albert Hoffmann: In mehr als 1.000 Meter Tiefe auf der 7. Sohle der Schachtanlage und in der ebenfalls auf Dortmunder Stadtgebiet liegenden Zeche "Hansemann" sollten diese Wehrlosen eingemauert werden oder auf andere Weise ihr Leben verlieren. In den Hauptförderstreben, 1,5 mal 2,5 Meter im Durchmesser große Gänge, herrschen Temperaturen von 40 Grad Celsius. Ohne Luftzufuhr wären die Eingemauerten in der Tiefe qualvoll erstickt.
Erst sieben Jahrzehnte später kann der Historiker Stefan Klemp das Geschehen erzählen. "Man hat das Thema einfach unter den Teppich fallen lassen", glaubt Klemp, der für die Simon-Wiesenthal-Organisation Los Angeles tätig war und heute im Dortmunder Stadtarchiv arbeitet. Der Befehl, einmal befolgt, wäre "eines der größten Kriegsverbrechen gewesen. Ich kenne kaum Vergleichbares".
Dabei lagern Belege für den Befehl schon lange im NRW-Staatsarchiv in Münster: In den "Primavesi"-Akten, der 8.000 Seiten umfassenden Personalaktensammlung eines Polizeioffiziers der Nachkriegszeit. Man findet dort unter den Nummern 206 und 207 die entscheidenden, belastenden Verhörprotokolle aus dem Frühjahr 1949.
Mündlicher Befehl
Der Befehl des Nazis Albert Hoffmann für diesen barbarischen Plan ist nicht schriftlich erfolgt. Er wurde, wie so oft im "Dritten Reich", mündlich übermittelt. Am 31. Mai 1949 sitzt der Polizeiinspektor August Petersen als Zeuge den vernehmenden Beamten gegenüber und berichtet davon. Petersen soll eigentlich aussagen, was er über Erschießungen von Häftlingen und Zwangsarbeitern in der Bittermark und im Dortmunder Rombergpark weiß, die es gegen Kriegsende gegeben hatte.
Doch dann elektrisiert die Staatsanwälte ein ganz anderer Satz des Zeugen: "Es war am Nachmittag des 26. März 1945, einem Montag, als der Gauleiter Albert Hoffmann dem Dortmunder Kommandanten der Schutzpolizei, Wilhelm Stöwe, telefonisch einen Befehl übermittelte." Sie wollen mehr dazu wissen, vernehmen weitere Eingeweihte.
Bruchstückhaft kommt bis in den September 1949 heraus, wie dieser Befehl aussah und wie die Polizeizentrale an der Leipziger Straße in den letzten Kriegstagen mit der Order umging. "Fernmündlich wurde der Befehl oder die Anweisung gegeben, die Fremdarbeiter, welche sich in Dortmund aufhielten, auf den untersten Grubensohlen unterzubringen", bestätigt Oberst Stöwe Petersens Aussage.
Der Gauleiter verschanzte sich im Bunker
Ein Major Siffrin habe ihm den Anruf des Gauleiters übermittelt. Als Siffrin aussagt, zeigt der Erinnerungslücken, aber "mir ist damals auch bekannt geworden, dass etwa 30.000 Fremdarbeiter auf untersten Grubensohlen untergebracht werden sollten." Von ihrem geplanten "Einmauern" weiß Polizeioberst Gonschorowski, von der geplanten "Vernichtung der Russen" wurde dem Direktor der Gelsenkirchner Bergwerks AG, Werner Haack, berichtet.
"Das Ziel", glaubt Historiker Klemp, "war eindeutig die Tötung. Ob durch Fluten der Sohlen, Sprengung oder den Entzug von Sauerstoff." Das bestätigt die Aussage einer weiteren Zeugin der Dortmunder Ereignisse im März 1945, der Stenotypistin Hildegard Raake: "Mir war während meiner Tätigkeit im Befehlsbunker auch bekannt geworden, dass ein Befehl der Gauleitung übermittelt worden war, aufgrund dessen etwa 30.000 Ausländer – man sprach von der 7. Sohle – untergebracht und dort vernichtet werden sollten."
Was trieb Albert Hoffmann zu diesem grauenhaften Auftrag? Die 49 deutschen Gauleiter waren in der Parteihierarchie unmittelbare Stellvertreter des "Führers". Sie konkurrierten mit der staatlichen Verwaltung. In seiner Funktion als Reichsverteidigungskommissar aber hatte Gauleiter Hoffmann, der sich in einem Bunker oberhalb der Ruhr vor den anrückenden Alliierten verschanzt hielt, zusätzlich umfassende Staatsgewalt.
"Nehmen Sie ihre Knochen zusammen"
Möglich, dass eine Mischung aus Rassenhass und Furcht vor der Rache der 30.000 Russen, Ukrainer und Polen zum Motiv für den Massenmordbefehl wurde: Ein Zug von Zwangsarbeitern, die ostwärts getrieben werden sollten, steckte im Frühjahr 1945 in den zerstörten Straßen Dortmunds fest. Die deutsche Bevölkerung müsse vor möglichen "Übergriffen von Fremdarbeitern" geschützt werden, sei am Telefon mitgeteilt worden. So steht es in der Aussage des Polizeidirektors Stöwe.
Im Dortmunder Befehlsbunker müssen nach dem Anruf der Gauleitung die Nerven blank gelegen haben. "Nehmen Sie ihre Knochen zusammen", schrie der schon betrunkene Dortmunder Nazi-Polizeipräsident Altner seinen Untergebenen Stöwe zusammen. Vielen der eingeweihten Polizeioffiziere sei angesichts der nahen Niederlage "mulmig" gewesen, glaubt der Historiker Klemp.
Das "größte Kriegsverbrechen der Weltgeschichte" drohe, wird Polizei-Oberstleutnant Ludovici in den Primavesi-Akten zitiert. Gonschorowski will geglaubt haben: "Wenn das durchgeführt wird, können wir uns alle einen Strick kaufen." Stöwe gab am 20. Juli 1949 zu Protokoll: "Mir war von vorneherein klar, dass die Durchführung eines solchen Befehls das Schicksal eines wohl großen Teils der Einwohner Dortmunds besiegelt hätte."
"Junge, lass das mal sein"
Zumindest die Haltungen von Stöwe und Altner bleiben bis heute zwielichtig – haben sie doch ihre Untergebenen, teils mehrfach, zum Leiter des Bergwerks "Gottessegen", Heinrich Heimann, und zu Werner Haack von der Gelsenkirchener Bergwerks-AG geschickt. Die Order: Sie sollten herausfinden, ob und wie der Befehl umsetzbar war. Stöwe will auf eine Ablehnung durch die Bergwerkschefs gesetzt haben, was bei der Einvernahme 1949 nicht alle Zeugen bestätigen wollten.
Tatsächlich aber leitete diese Erkundungsmission die Wende ein. Heimann und Haack wurden zu Rettern der Sowjetbürger und Polen. Sie erklärten den Transport der Fremdarbeiter auf die untersten Sohlen für wirtschaftlich und technisch unmöglich. "Gottessegen" sei die einzige Zeche, die im Ruhrgebiet noch "Kohle für Wasserwerke, Kraftwerke und Krankenhäuser" liefere, wandte Heimann ein, dessen Vater ihm ein Nein empfohlen hatte: "Junge, lass das mal sein." Haack erklärte den Besuchern, "dass ich das ablehnen müsse. Im Übrigen wäre nicht der Strom da, um eine derartige Unterbringung durchführen zu können."
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Mit den Absagen der Betriebsleiter kehrten die Emissäre zurück. Die Polizeiführung entschied daraufhin, den Mordplan aufzugeben. Wohl auch, weil jede Zeit für die Ausführung fehlte. In der Nacht zum 13. April 1945 rückten amerikanische Truppen von Süden her vor, sie besetzten "Gottessegen". Um 16.30 Uhr an diesem Tag wehte über Dortmunds Ruinen das Sternenbanner.
Die Verantwortlichen kamen davon
Nur Stunden zuvor hatte sich Polizeipräsident Altner erschossen. Oberst Stöwe quittierte den Dienst nach Gründung des neuen Bundeslandes Nordrhein-Westfalen. Gauleiter Albert Hoffmann verkaufte bis zu seinem Tod 1972 in Bremen Automobile. 1962 wurde der Kohleabbau der Schachtanlage "Gottessegen" eingestellt. Die Zeugenaussagen von Frühjahr und Sommer 1949 zum geplanten Massenmord an 30.000 wehrlosen Menschen haben nie zu einer Anklage geführt.
Die sowjetische Militärmission richtete bei Kriegsende eine Stelle ein, um Fremdarbeiter und Kriegsgefangene von der Ruhr in die Heimat "zurückzuführen". Dort eingetroffen erklärte sie Stalin zu "Vaterlandsverrätern".
- Eigene Recherchen
- Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen