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Erster Weltkrieg: Deutsche nicht allein schuld und zudem ziellos


Die ewige Schuldfrage
"Die Deutschen hatten den Krieg nicht geplant"

dpa, t-online, afp, mab

Aktualisiert am 10.02.2014Lesedauer: 4 Min.
Deutsche Truppen marschieren über die Grenze nach Frankreich - ohne klares Ziel vor Augen?Vergrößern des Bildes
Deutsche Truppen marschieren über die Grenze nach Frankreich - ohne klares Ziel vor Augen? (Quelle: dpa-bilder)

Lange galt die Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg als historischer Fakt. Das Schlachten mit 15 Millionen Toten wird häufig nur als Vorspiel des Zweiten Weltkriegs betrachtet. Zum hundertjährigen Gedenken an den Kriegsausbruch 1914 rücken Verdun und Versailles wieder in Erinnerung. In Aufsehen erregenden Publikationen argumentieren deutsche und internationale Autoren, dass keineswegs alles geklärt ist.

Viele Historiker sehen das Gemetzel vor dem Hintergrund eines gesamteuropäisches Versagens. Eine Forsa-Umfrage aus dem Januar 2014 zeigt, dass diese Ansicht auch in der Bevölkerung inzwischen weit verbreitet ist: 58 Prozent der Befragten machen alle beteiligten Staaten für den Kriegsausbruch im Sommer 1914 verantwortlich. Nur 19 Prozent schreiben Deutschland die Hauptschuld zu.

Revanchegelüste und Weltmachtansprüche

Renommierte Wissenschaftler wie der Imperialismus- und Weltkriegsforscher Sönke Neitzel, Professor für Geschichte an der London School of Economics, warnen vor dem falschen Schluss, das Kaiserreich solle im Nachhinein rein gewaschen werden. Doch im Gegensatz zu den anderen Kriegsteilnehmern habe es keine wirklich klar erkennbaren Kriegsziele verfolgt. Lediglich die sehr allgemein gehaltenen Weltmachtambitionen von Kaiser Wilhelm II. ließen darauf schließen, dass Deutschland ein Interesse am Krieg hatte.

Großbritannien hingegen habe sein Imperium durch diese Weltmachtambitionen bedroht gesehen. Russland habe die Chance gekommen sehen, sein Reich vor allem südwärts auszudehnen. Und Frankreich habe auf Revanche nach dem Verlust Elsass-Lothringens in Folge des deutsch-französischen Krieges 1870/71 gedrängt.

Nicht nur Jubelstürme und Kriegsbegeisterung

Auch die in der Literatur häufig transportierte kollektive Kriegsbegeisterung sei zu relativieren, schreibt der Berliner Humboldt-Politologe Herfried Münkler in seinem Werk "Der Große Krieg". Das gelte ebenso für Deutschland wie für die anderen Länder. Jubelszenen angesichts der Kriegserklärungen an die Feinde gab es zwar, vor allem in den Großstädten. Aber Angst war auch sehr weit verbreitet.

Mittlerweile wird unter Historikern und Politikwissenschaftlern die Frage nach der Unvermeidbarkeit des Kriegsausbruchs wieder kontrovers diskutiert. Das Attentat von Sarajevo auf Franz Ferdinand, den Thronfolger Österreich-Ungarns, sei mehr Anlass als Ursache für den Krieg gewesen, so die mittlerweile verbreitete Annahme. Weil ein serbischer Nationalist den Kronprinzen ermordet hatte, stellte Wien ein Ultimatum an Serbien, diesen auszuliefern. Danach nahm der Gang der Geschichte seinen vermeintlich unaufhaltsamen Lauf.

Belgrad ließ die Frist im Vertrauen auf seine Schutzmacht Russland verstreichen. Und das Deutsche Reich stand den Österreichern mit dem berühmten "Blankoscheck" bei - komme da, was wolle. Eine Kriegserklärung folgte schließlich der nächsten, und die Mittelmächte sahen sich letztlich einem Zweifrontenkrieg ausgesetzt, den es militärisch immer zu verhindern galt.

War die Urkatastrophe verhinderbar?

Aber hätte die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" doch noch abgewendet werden können? Oder standen die Zeichen längst auf Konfrontation, die von den Beteiligten sogar ersehnt wurde. Schlitterte Europa in den Krieg hinein? Sind deutsche Weltmachtphantasien dafür verantwortlich? Oder tragen alle Staaten, die sich in einem Kampf um Kolonien und Einflusssphären in Übersee und letztlich in Europa verstrickt und verloren hatten, eine Mitschuld?

Bereits Monate vor dem 100. Jahrestag des Kriegsbeginns am 1. August gehen die Wissenschaftler in ihren neuesten Werken diesen und der noch immer offenen Frage nach, wie ein regionaler Konflikt den Weltenbrand auslösen konnte. Ob Münkler, Neitzel, der australische Historiker Christopher Clark von der Universität Cambridge mit seinem Buch "Die Schlafwandler" oder die kanadische Historikerin Margaret MacMillan von der Universität Oxford mit ihrer Ursachenforschung "The war that ended peace".

Fischer riss Gräben auf

Bereits der Hamburger Historiker Fritz Fischer löste in den 1960er Jahren die erste Historikerdebatte nach 1945 in Deutschland aus: Beflügelt von dem bis tief in die deutsche Gesellschaft reichenden Hurra-Patriotismus, so lautet Fischers These, habe sich die Reichsleitung von Militärs und Staatssekretären als Nachzügler unter den Kolonialmächten zum Angriff auf Europa entschlossen.

Fischer trieb seinerseits nationalkonservative Historiker wie Gerhard Ritter sowie Politiker wie Bundeskanzler Ludwig Erhard und Franz Josef Strauß auf die Barrikaden. Der Historiker habe im Nachhinein, so lautete der Vorwurf aus der konservativen Politikerecke der noch jungen Republik, den Vertrag von Versailles - das "Schanddiktat", wie der sehr harte Frieden in der Propaganda immer hieß, bestätigt. In dem Vertrag schrieben die Siegermächte 1918 die deutsche Alleinschuld fest und belegten das Reich mit harten Sanktionen in Form der Reparationszahlungen.

Kriegseintritt ohne Ziele

Viele Jahre spielte der Erste Weltkrieg dann aber nur in Fachkreisen eine Rolle. Doch nun ist die Aufmerksamkeit wieder da, und längst sind immer mehr Historiker von den Fischer-Thesen abgerückt. "Die Deutschen hatten den Weltkrieg nicht geplant, sie gingen sogar ziemlich unvorbereitet in den Krieg", sagt Neitzel in einem Interview mit "Spiegel Geschichte".

Deutschland habe im August 1914 gar keine Kriegsziele gehabt. Erst als der Krieg richtig losbrach, hätten vor allem rechte Kreise von möglichen Annexionen in den Nachbarstaaten gesprochen. Münkler zieht eine Verbindung zwischen Fischers Thesen und dem Aufbau der Demokratie in Deutschland nach 1945. Er spricht dabei von dem "Irrglauben", dass die neue europäische Friedensordnung die Konstellationen für einen Konflikt wie 1914 aus der Welt geschaffen habe.

Die jugoslawischen Zerfallskriege von 1991 seien dafür eine deutliche Warnung. "Auf längere Sicht haben Fischers Thesen wie ein politischer Tranquilizer gewirkt, der gegenüber den fortbestehenden Konfliktfeldern in Europa unaufmerksam und schläfrig gemacht hat", schreibt Münkler. Hier wird der Aufruf klar, nicht länger in veralteten Stereotypen zu denken und sich zu trauen, diese zu hinterfragen und im Lichte neuer historischer Fakten auch neu zu interpretieren und darzustellen.

Eine Tragöde für alle, kein Verbrechen einzelner Staaten

Auch Clark spricht in seinem Bestseller von einer gesamteuropäischen Krise im Jahr 1914: "Der Kriegsausbruch von 1914 ist kein Agatha-Christie-Thriller." Am Ende werde der Schuldige nicht neben dem Leichnam auf frischer Tat ertappt. Der Kriegsausbruch sei eine Tragödie aller und kein Verbrechen einzelner Staaten gewesen. Das bis dahin schlimmste Blutvergießen der Menschheitsgeschichte hat mindestens neun Millionen Soldaten und sechs Millionen Zivilisten das Leben gekostet.

Ob in London, Paris, Wien, Berlin oder Moskau - jede Regierung habe die Chance gehabt, die Eskalation zu stoppen, so Clark. Monarchen und Militärs, Minister und Diplomaten hätten ihr Spiel aber so lange getrieben, bis ihnen am Ende die militärische Konfrontation als unausweichlich erschien. Alle hatten also versagt.

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