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Russlands Krieg
Putins Ziele reichen weit über die Ukraine hinaus

Von Marc von Lüpke

Aktualisiert am 28.11.2022Lesedauer: 4 Min.
Wladimir Putin: Russlands Machthaber will das Imperium in alter Größe sehen.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Machthaber will das Imperium in alter Größe sehen. (Quelle: Mikhail Metzel/POOL/TASS/dpa)
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Rückzug heißt es für die russische Armee in der Ukraine, Wladimir Putin wäre aber lieber weiter nach Westen gestürmt. Wie weit? Das verrät der Blick in ein neues Buch.

Wladimir Putin gilt als ausgeprägter Macho. Russlands Machthaber muss allerdings damit leben, dass ausgerechnet einer Frau lange vor ihm das gelungen ist, woran er gerade scheitert: Kaiserin Katharina die Große machte sich im 18. Jahrhundert die Südukraine untertan, fügte sie als Teil "Neurusslands" dem Russischen Imperium hinzu.

Der heutige starke Mann im Kreml musste hingegen am vergangenen 9. November eine Blamage hinnehmen: Seine Truppen räumten die besetzte ukrainische Stadt Cherson, nicht weit vom Schwarzen Meer entfernt. Doch die russischen Soldaten gingen nicht mit leeren Händen. Aus der St.-Katharinen-Kathedrale stahlen sie die Gebeine eines Toten, eines überaus berühmten: Fürst Grigori Potjomkin hatte einst in Diensten Katharinas die südliche Ukraine erobert; und nicht nur sie. 1783 gelang ihm die Annexion der Krim, die eigentlich als Vasallenstaat dem Osmanischen Reich untertan gewesen war.

Großer Landhunger

"Glaub mir, durch diese Tat wirst Du größeren Ruhm erringen als jeder andere russische Monarch zu irgendeiner Zeit", hatte Potjomkin der Kaiserin in Sachen Krim versprochen. "Ruhm" ist es nun auch, der Wladimir Putin bei seiner Aggression gegen die Ukraine antreibt, sein Machismo geht nicht so weit, als dass er Katharina die Große nicht als historisches Vorbild anerkennen würde.

Als nun am 24. Februar 2022 die russischen Truppen das Nachbarland Ukraine überfielen, stellte sich die westliche Politik eine grundsätzliche Frage: Was will Putin? Eine Antwort darauf liefern historische Karten, wie sie der französische Historiker Christian Grataloup kürzlich in seinem Buch "Die Geschichte der Welt. Ein Atlas" veröffentlicht hat. Aufschlussreich und schnell erschließbar schildert Grataloup darin die Entwicklung der Staaten und Gesellschaften in 515 Karten von den Vorfahren des Homo sapiens bis in die Gegenwart. Der Blick auf die Geschichte Russlands offenbart auch Putins Absichten.

Die Karten zeigen, wie ungeheuer das Territorium der Zaren im Laufe der Jahrhunderte gewachsen ist. Bereits im 16. Jahrhundert beherrschten sie von Moskau aus ein Reich, das im Norden den Arktischen Ozean erreichte und im Süden fast den Strom Dnepr (ukrainisch: Dnipro). Ein Jahrhundert später hatte Russland bereits den Ural überwunden und verleibte sich im endlos scheinenden Sibirien Landstrich für Landstrich ein, während die südöstliche Grenze bereits das Kaspische Meer erreichte.

Peter der Große und Katharina, der ebenfalls dieser Beinamen verliehen wurde, trieben Russlands Ausdehnung vehement voran. 1709 schlug Zar Peter die damals mächtigen Schweden beim heutigen ukrainischen Poltawa – und machte Russland spätestens damit in den Augen des Westens zu einer Macht, mit der zu rechnen war. 1772, 1793 und 1795 verleibte sich Katharina während der Polnischen Teilungen dann riesige Gebiete der geschwächten polnischen Adelsrepublik ein, die Russland zum Nachbarn Preußens machte.

"Natürliche Ordnung der Dinge"

"Ich sehe keine andere Möglichkeit, meine Grenzen zu verteidigen, als sie auszuweiten", rechtfertigte Katharina ihre aggressive Expansionspolitik, die auch in der Inbesitznahme der Südukraine samt Krim mündete. Ein Satz, der auch einem Wladimir Putin gefallen könnte. Denn der Machthaber im Kreml begründete seinen Krieg gegen die Ukraine, die in Russland zunächst nur als "militärische Spezialoperation" bezeichnet werden dufte, mit einer angeblich notwendigen "Entnazifizierung" der ukrainischen Regierung in Kiew – absurd, aber propagandaträchtig in den Staatsmedien Russlands.

Wie weit Putins Pläne wahrscheinlich reichen, offenbart eine andere Karte aus Christian Grataloups Atlas. 1945 siegte die Sowjetunion über das nationalsozialistische Deutschland. Diktator Josef Stalin führte das Land zum Höhepunkt seiner Macht, indem er einen Eisernen Vorhang in Europa niedergehen ließ. Die Sowjetunion selbst reichte damals von Wladiwostok am Japanischen Meer bis hin zum Fluss Bug. Ihr Einflussbereich war noch größer – bis hin zum DDR-Todesstreifen an der deutsch-deutschen Grenze in Form der Satellitenstaaten des Warschauer Pakts.

"Das hält Putin für die natürliche Ordnung der Dinge", sagte der Historiker Jan C. Behrends t-online. "Alles, was davon abweicht, sieht er als historische Ungerechtigkeit, die es zu revidieren gilt." Putin selbst hatte die Auflösung der Sowjetunion einmal als die "größte geopolitische Katastrophe" des vergangenen Jahrhunderts beklagt. Aus der Supermacht, die schon lange nicht mehr super war, enstand eine Vielzahl von Nachfolgestaaten. Darunter die Russische Föderation.

Der Ukraine kam beim Ende der Sowjetunion Ende 1991 eine besondere Rolle zu: Am 24. August hatte die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärt, bei einem Referendum später im Jahr hießen mehr als 90 Prozent der Bevölkerung dies für richtig. Die Sowjetunion ohne die Ukraine? Das erschien damals als nicht möglich. Ihren Drang nach Unabhängigkeit wird Putin der Ukraine nie vergeben haben.

Aktualisierung notwendig?

Zumal sich das Nachbarland dem Westen und der Demokratie zuwandte, beides nach Putin nicht zu akzeptierende Vorgänge. 2014 schritt Moskau ein und annektierte die Krim. Jahrhunderte hatte die Halbinsel zu Russland gehört, 1954 "schenkte" sie Nikita Chruschtschow als ein Vorgänger Putins im Kreml dann der Ukraine. Das Warum weiß niemand so genau zu beantworten. Wahrscheinlich war es Chruschtschow einerlei. Denn die Ukraine gehörte damals zur Sowjetunion, deren Ende er sich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vorstellen konnte.

Die Krim war Putin allerdings nicht genug – weswegen er 2022 zur Gewalt griff und die europäische Friedensordnung demolierte. Nun verläuft der Krieg aber alles andere als gut für Russland, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat gar die Rückeroberung der Halbinsel als Parole ausgegeben. "Von nun an und für alle Zeiten" sei die Krim russisch, hatte Katharina die Große einst verkündet. Dass dies allzu optimistisch war, bewies 1954 schon Chruschtschow. Möglicherweise wird auch Christian Grataloup seinen Atlas aktualisieren müssen, wenn das Kriegsglück den Ukrainern hold bleibt.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Christian Grataloup: "Die Geschichte der Welt. Ein Atlas", München 2022
  • Simon Sebag Montefiore: "Die Romanows. Glanz und Untergang der Zarendynastie 1613-1918", Frankfurt/Main 2016
  • Marc Galeotti: "Die kürzeste Geschichte Russland", Berlin 2022
  • Andreas Kappeler: "Kleine Geschichte der Ukraine", 7. Auflage, München 2022
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