Forscher knacken Rätsel Die verstörende Geschichte der Toten von Waterloo
Von den 20.000 Gefallenen der Schlacht bei Waterloo fehlte Jahrhunderte lang fast jede Spur. Jetzt ist klar: Ihre Gebeine wurden für die Zuckerproduktion zermahlen.
Für die Gefallenen von Waterloo ist das Versprechen vom "süßen Tod fürs Vaterland" auf perfide Weise in Erfüllung gegangen. Mehr als 20.000 Soldaten und ihre Pferde lagen tot auf den Äckern südlich von Brüssel, nachdem Frankreichs Eroberer Napoleon Bonaparte im Juni 1815 seine letzte Schlacht gegen die Armeen Großbritanniens und Preußens verloren hatte. Ihre letzte Ruhestätte fanden die Toten aber nicht auf Friedhöfen, sondern in den Fabriken der aufkommenden europäischen Zuckerindustrie.
Der Verbleib der sterblichen Überreste der Gefallenen galt als eines der größten Rätsel rund um das Gemetzel von Waterloo, mit der eine turbulente Phase der europäischen Geschichte ihr Ende fand. Selbst mit den wissenschaftlichen und technischen Methoden des 21. Jahrhunderts haben Archäologen in den vergangenen Jahren nur zwei menschliche Skelette auf den Gemarkungen von Braine-l’Alleud und Plancenoit gefunden, wo die Schlacht damals tobte. Den letzten Fund dieser Art machten belgische Forscher im vorigen Jahr.
Das Geschäft mit den Knochen von Waterloo
Lange war vermutet worden, die Knochen von Waterloo seien schon den 1820er-Jahren ausgegraben, nach England verschifft, zu Knochenmehl verarbeitet und als Dünger auf den Feldern verstreut worden. Jetzt hat ein Team aus drei Historikern die entscheidenden Hinweise auf die Wahrheit gefunden, wie die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) berichtet. Ihr liegt der Forschungsbericht vor, den Bernard Wilkin, Robin Schäfer und Tony Pollard am Donnerstag vorstellen wollen. Demnach begann das Geschäft mit den Toten von Waterloo etwa 20 Jahre nach der Schlacht.
Ab 1834 sind in den Gemeindearchiven von Braine-l’Alleud und Plancenoit illegale Ausgrabungen von Knochen in Massengräbern dokumentiert, hat der Belgier Wilkin herausgefunden, dessen Vorfahren selbst Landwirte in der Region waren. In einer Bekanntmachung wies der Bürgermeister von Braine-l’Alleud darauf hin, dass die Störung der Totenruhe "mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu einem Jahr und einer Geldstrafe von zehn bis 200 Franken geahndet" werde. Doch es half nichts, wie weitere Erkenntnisse der Forscher zeigen.
Die Zuckerrübe verdrängt Kartoffeln und Getreide
So zitieren die Forscher aus einem Artikel des "L’Indépendant" vom 23. August 1835, in dem es heißt, eine Gruppe von Industriellen habe die Erlaubnis erhalten, das Schlachtfeld auszuheben, um "die Knochen der Tapferen, die tot auf dem Feld der Ehre liegen, zu entfernen, um Knochenkohle zu machen". Schon 1830 berichtete der deutsche Geologe Karl von Leonhard in einem Brief von seinem Besuch des Gutshofs La Haye Sainte, den während der Schlacht 400 deutsche Soldaten verteidigt hatten.
Nun fand von Leonhard dort "mächtige Haufen von Pferdeknochen" vor und "tiefe Gräben, gefüllt mit Menschen und Tieren". Einer der Arbeiter habe "die Knochen der Garde-Grenadiere" besonders gelobt, da sie "so viel wiegen wie die von Pferden", schrieb von Leonhard.
Tatsächlich hätten auch die lokalen Honoratioren kein Interesse daran gehabt, das Geschäft zu unterbinden, schreiben die Forscher: Mit den mindestens 1,7 Millionen Kilogramm Knochen im Boden habe sich ein "kleines Vermögen" verdienen lassen. Denn um 1833 herum begann der Aufstieg der Zuckerindustrie in Belgien und dem Rest Europas. Damit einhergehend verdrängte die Zuckerrübe Kartoffeln und Getreide von den Äckern, besonders in der Region um Waterloo. Für den Anbau der Rübe mussten die Bauern den Boden aber tiefer pflügen als für andere Feldfrüchte. Dabei seien sie zwangsläufig auf menschliche Überreste und Massengräber gestoßen, erklären die Forscher.
"Die Entdeckung ist sehr wichtig"
Die Zuckerfabriken, die nicht nur in Belgien aus dem Boden schossen, gierten geradezu nach den Knochen von Menschen und Tieren. Zu Knochenkohle zermahlen, diente das organische Material dazu, den Zucker zu filtern und dabei zu entfärben. Ein zeitgenössischer Politiker schätzte den Bedarf an Kochen auf etwa ein Drittel des produzierten Zuckers. Ein weiterer Hinweis auf das lukrative Geschäft ist die Erleichterung des Außenhandels mit Tierknochen, die das belgische Parlament 1834 beschloss.
Unter Historikern dürften die Erkenntnisse von Wilkin, Schäfer und Pollard Begeisterung auslösen. "Die Entdeckung ist sehr wichtig, weil sie die Informationen, die wir vorher hatten, komplett verändert", so der französische Historiker und Napoleon-Fachmann David Chanteranne zur "FAZ". Es sei ein Skandal, den das Trio aufgedeckt habe. Die Autoren selbst halten sich mit ihrem Urteil über die damalige Zeit zurück: Es sei den Menschen schließlich darum gegangen, ihr tägliches Leben mit dem Knochengeschäft zu verbessern. Vor allem für den Belgier Bernard Wilkin überwiegt die Freude über die Lösung des Rätsels.
Er könne es selbst noch nicht fassen, was sie gefunden hätten, sagte Wilkin der Zeitung: "Die Antwort auf eine offene Frage der letzten 200 Jahre." Dies sei möglich gewesen, weil viele seiner Primärquellen anderen Forschern bislang nicht zugänglich gewesen seien. Die Gemeindearchive etwa fänden sich in keiner digitalen Datenbank. Wer nicht wie er selbst im belgischen Staatsarchiv arbeite, hätte praktisch keine Chance gehabt, die Berichte zu entdecken. Zudem müsse man schon ein paar Sprachen sprechen, um alle Hinweise zusammenzutragen, so Wilkin.
- faz.net: "Das grausige Ende der Gefallenen von Waterloo" (Bezahlangebot; Stand: 24. Januar 2023)