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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Einem Rätsel auf der Spur Ein gefährliches Gift machte die Römer dümmer
Der Untergang des Römischen Reichs gibt bis heute Rätsel auf. Wie konnte ein riesiges Imperium verfallen? Eine Studie bietet nun einen neuen Ansatz auf der Suche nach der Antwort.
Die Pax Romana – oder Römischer Frieden – das sind 200 Jahre, die als die Blütezeit des Römischen Reiches in die Geschichte eingegangen sind. Nach den verheerenden Bürgerkriegen der vorangegangenen Jahrhunderten konnte die Wirtschaft erstarken. Dichter wie Vergil und Ovid prägten diese Zeit. Rom wandelte sich von einer Stadt aus Ziegeln zu einer Stadt aus Marmor. So beschrieb es einst Kaiser Augustus, mit dessen Alleinherrschaft der Römische Frieden begann. Historiker datieren diese Phase üblicherweise von 27 v. Chr. bis zum Jahr 192 n. Chr.
Medizin, Architektur, Straßensystem oder Bewässerung: Die Jahrhunderte des inneren Friedens brachten auf vielen Gebieten enorme Fortschritte. Doch die römische Lebensart brachte auch Probleme mit sich – und zwar für das gesamte Reich. Einer neuen Studie zufolge war in dieser Periode in ganz Europa ein kognitiver Verfall zu beobachten. Zurückzuführen sei er auf eine massive Verschmutzung der Luft durch Blei, so das Ergebnis der Studie am Desert Research Institute in Nevada.
IQ-Werte sanken um 2 bis 3 Prozentpunkte
Das Schwermetall fand großen Einsatz in der boomenden Metallindustrie des Reichs, zum Beispiel beim Bergbau und bei der Verarbeitung von Metallerzen. Die Bleibelastung in der Luft war infolgedessen während der Blütezeit des Römischen Reichs so hoch, dass es zu einem geschätzten Rückgang des durchschnittlichen IQ-Werts um zwei bis drei Prozentpunkte kam.
"Es ist erstaunlich, dass wir die Luftverschmutzung in Europa vor fast 2.000 Jahren quantifizieren und mögliche gesundheitliche Auswirkungen auf die antike römische Zivilisation einschätzen konnten", erklärte Dr. Joseph McConnell die Ergebnisse seiner Forschung.
Um die Bleibelastung in der Luft bis in die Römerzeit zurückzuverfolgen, analysierten McConnell und ein internationales Forscherteam Eisbohrkerne aus der Arktis. Die Kerne lieferten eine Zeitleiste der atmosphärischen Bleikonzentrationen zwischen 500 v. Chr. und 600 n. Chr.
Dabei zeigten die Proben aus der Zeit der Pax Romana einen starken Anstieg der Bleibelastung. Die Werte blieben bis zum Ende der Periode sehr hoch. McConnell schätzt, dass das Reich in diesem Zeitraum mehr als eine halbe Million Tonnen Blei in die Atmosphäre freisetzte.
Blei war im Römischen Reich allgegenwärtig
Blei war in der römischen Gesellschaft allgegenwärtig. Die Ärzte der Antike waren sich der Gefahren einer Bleivergiftung zwar bewusst, aber das Metall fand dennoch häufig Verwendung: in Wasserleitungen, Kochtöpfen, Medikamenten, Kosmetika und Spielzeug. Die Römer benutzten bleihaltige Essenzen sogar zum Süßen von Wein.
Blei hing buchstäblich in der Luft. Riesige Minen, Schmelzbetriebe, Silber- und Goldraffinerien des Reiches pusteten das Schwermetall in die Atmosphäre. Die gesamte Bevölkerung atmete das starke Nervengift ein.
Um herauszufinden, welche Auswirkungen die Bleibelastung gehabt haben könnte, griffen die Wissenschaftler nun auf atmosphärische Modelle zurück. So konnten sie nachzeichnen, wie sich das Blei in Europa verteilt hat. Anschließend berechneten sie, wie viel des neurotoxischen Metalls sich im Organismus von Kindern angesammelt und welche Auswirkungen es auf ihren IQ gehabt haben könnte.
Die Forscher fanden heraus, dass der Bleigehalt im Blut von Kindern in der Blütezeit des Römischen Reiches im Durchschnitt um 2,4 Mikrogramm pro Deziliter – oder pro 100 Milliliter – gestiegen sein könnte, was ihren IQ um 2,5 bis 3 Punkte gesenkt hätte. Insgesamt lag diesen Berechnungen zufolge der Blei-Blutwert bei Kindern bei etwa 3,5 Mikrogramm pro 100 Milliliter. Auf einen Liter Blut gerechnet wären es 35 Mikrogramm Blei.
Zum Vergleich: Aktuell gelten laut dem Umweltbundesamt folgende Referenzwerte: für erwachsene Frauen zwischen 24 und 29 Mikrogramm pro Liter und für Männer zwischen 22 und 33 Mikrogramm pro Liter.
Trug Bleivergiftung zum Untergang des Römischen Reichs bei?
"Eine Verringerung des IQs um 2,5 bis 3 Punkte klingt vielleicht nicht nach viel, aber sie betraf die gesamte Bevölkerung", erklärt McConnell die Bedeutung seiner Studienergebnisse. Zudem sei anzunehmen, dass der IQ während der gesamten 200-jährigen Periode der Pax Romana durch die Bleibelastung verringert wurde. "Ich überlasse es Epidemiologen, Althistorikern und Archäologen, zu bestimmen, ob die von uns festgestellten Bleibelastungen und gesundheitlichen Auswirkungen ausgereicht haben, um die Geschichte zu verändern", sagt er bedeutungsvoll.
Nach einigen Schätzungen zählte das Römische Reich auf seinem Höhepunkt mehr als 80 Millionen Menschen. Was bedeutet, dass etwa ein Viertel der Weltbevölkerung der hohen Bleibelastung ausgesetzt gewesen sein könnte. Die Auswirkungen einer massiven Bleivergiftung könnten so schwerwiegend gewesen sein, dass Wissenschaftler nun darüber debattieren, ob sie zum Untergang des Reiches beigetragen hat.
Bleiverschmutzung bleibt ein Problem
Auch heute bleibt die Bleiverschmutzung ein großes Problem. Einer Unicef-Studie zufolge leidet jedes dritte Kind weltweit an einer Bleivergiftung. 800 Millionen Kinder haben demnach einen Blutbleigehalt von mindestens fünf Mikrogramm pro 100 Milliliter. Diese Werte sind noch höher als zur Zeit des Römischen Kaiserreichs. Selbst in geringen Mengen kann Blei das Gehirn und das Nervensystem von Kindern irreversibel schädigen, ebenso ihr Herz, ihre Lunge und ihre Nieren. Und es kann zu verminderter Intelligenz führen.
- pnas.org: "Pan-European atmospheric lead pollution, enhanced blood lead levels, and cognitive decline from Roman-era mining and smelting" (Englisch)
- theguardian.com: "Roman Empire’s use of lead lowered IQ levels across Europe, study finds" (Englisch)
- Dietmar Kienast: Augustus: Prinzeps und Monarch. 5. Auflage. Verlag Philipp von Zabern in Wissenschaftliche Buchgesellschaft
- Aktualisierung der Referenzwerte für Blei im Blut von Erwachsenen. Stellungnahme der Kommission HumanBiomonitoring des Umweltbundesamtes
- unicef.org: "The toxic truth: Children’s exposure to lead pollution undermines a generation of future potential" (Englisch)