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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Aktivistin gegen Catcalling Sie sorgt für Empörung, damit sich etwas ändert
Die Straßenaktivistin Ingy El Ismy braucht kein Megafon. Ihr Protest ist leise, aber knallbunt. Mit Kreide schreibt sie auf die Straßen, was sonst oft unbeachtet bleibt.
Schroff kratzt blaue Kreide über den Asphalt. "Hey Baby, suck my d*ck!" (dt. "Blas mir einen!"), schreibt Ingy El Ismy auf den Alexanderplatz. Die meisten Passanten bleiben entweder stehen oder laufen unbeirrt weiter. Doch einem Mann stößt die derbe Sprache übel auf: "Was machen Sie da? Das ist nicht richtig, was Sie hier tun!", ruft er. El Ismy stellt sich ihm gegenüber, mit ihrem langen schwarzen Mantel wirkt sie wie eine Kämpferin: "Ich bin Aktivistin und setze mich gegen sexuelle Belästigung auf der Straße ein", erklärt sie. Der Mann versteht nicht, schaut verärgert auf den Boden und geht.
Als Mitglied des Instagram-Accounts @catcallsofberlin kreidet die 24-Jährige seit zwei Jahren an, was im öffentlichen Raum oft unbeachtet bleibt: Catcalling – die häufigste Form verbaler sexueller Belästigung gegen Frauen. Es sind vermeintliche Komplimente, Androhungen von sexualisierter Gewalt oder Beschimpfungen auf offener Straße.
El Ismy lacht nervös. Sie weiß, dass sich manche an den vulgären Sprüchen stören. Doch was Passanten empört, wurde an den Orten, an denen El Ismy kreidet, laut ausgesprochen. Es hat sich in die Köpfe der Frauen gebrannt, für die sie kämpft. Nachdenklich runzelt El Ismy die Stirn und nimmt ein gelbes Stück Kreide. "#stopstreetharassment @catcallsofberlin" (dt. "Stoppt die Belästigung auf der Straße"), schreibt sie zu Ende und klopft sich den Staub von den Händen. Sie macht ein Foto, das sie später auf Instagram veröffentlichen wird. Auf dem Account reihen sich – Bild um Bild – Catcalls aneinander. Auch sie, ihre Schwestern und Freundinnen, haben es schon erlebt.
"Es ist ein Machtspiel", sagt die Aktivistin harsch. Männer seien sich darüber im Klaren, dass sie die Mächtigeren auf der Straße sind, erklärt sie und presst die Lippen aufeinander. "Sie nehmen sich das Recht heraus, die Grenzen anderer Personen zu übertreten."
"Viele tun das als normal ab, aber das sollte es nicht sein"
"Ey, du Schl*mpe", liest eine Passantin vor – der rote Schriftzug ist ihr aufgefallen. "Ist das echt passiert?", fragt sie. El Ismy nickt. "Das wurde einer jungen Frau zugerufen." Jung, das sind die meisten Betroffenen – aber eine Umfrage von @catcallsofberlin zeigt: Den ersten Catcall erleben Mädchen schon im Alter von 7 bis 13 Jahren. "Toll, dass es Menschen gibt, die darauf aufmerksam machen!", bedankt sich die Frau strahlend.
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El Ismy bedeutet das viel. Es gibt ihr Mut, weiterzumachen. Denn der Catcall auf dem Alexanderplatz ist nur einer von vielen, die fast täglich im Postfach des Accounts landen. "Ich kenne keine einzige Frau, die noch nicht gecatcallt wurde", betont El Ismy. "Viele tun das als normal ab, aber das sollte es nicht sein." Mit @catcallsofberlin will sie verbale sexuelle Belästigung sichtbar machen, denormalisieren und Betroffenen einen Platz schaffen, um über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ihr Ziel ist es, mit Workshops auch in Schulen für das Thema zu sensibilisieren.
"Nach dem Kreiden merke ich, wie es im Herzen sackt"
Die Kreideschachtel in der Hand geht El Ismy mit festem Schritt auf das Berliner Rathaus zu. "Wäre das meine Tochter und sie würde sich so anziehen, würde ich ihr eine klatschen", schreibt sie dort mit lilafarbener Kreide auf die Pflastersteine. Darunter: "#stopstreetharassment". Fünfmal schreibt die Aktivistin den Hashtag an diesem Tag an fünf verschiedene Orte. El Ismy schaut auf den Spruch, sie ringt mit den Worten. Für sie ist klar: "Meine Kleidung, mein Make-up, Uhrzeit oder Ort, an dem ich mich aufhalte, ist keine Einladung. Die Schuld liegt immer bei den Tätern, nicht bei den Betroffenen."
Eine Botschaft, die neben @catcallsofberlin weltweit 150 weitere Accounts vertreten. Denn Catcalling ist nicht nur auf dem Alexanderplatz in Berlin ein Problem. Auf sechs verschiedenen Kontinenten haben sich Jugendliche nach dem New Yorker Vorbild @catcallsofnyc zu der internationalen Organisation "Chalk Back" (Anspielung auf "talk back", dt. "Sprich zurück") zusammengeschlossen und kreiden verbale Belästigung an.
El Ismy macht ein Foto von dem Spruch. Schockiert ist sie über die Worte, die sie auf die Straße schreibt, nicht mehr. "Aber nach dem Kreiden merke ich, wie es im Herzen sackt", sagt sie und lächelt. Erleichtert darüber, dass sie den Betroffenen ihren Platz auf der Straße zurückerobert hat, schließt sie ihre Kreideschachtel – für heute.
- Studie des BMFSFJ: Sexismus im Alltag. Wahrnehmungen und Haltungen der deutschen Bevölkerung
- Chalk Back: About us.
- Gespräch und Begleitung von Ingy El Ismy
- Instagram-Account: @catcallsofberlin