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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Drama um ME/CFS-Krankheit Dennis ist immer erschöpft, aber kämpft nimmermüde
Er studierte und wollte mit seiner Freundin zusammenziehen. Dann kam die rätselhafte Krankheit und alles war anders. Dennis Scheffel hat kaum noch Kraft zum Sprechen. Sein Fall ist dennoch eine Geschichte von Kampfeswille und Hoffnung.
Ein 22-Jähriger trifft normalerweise Freunde, macht Sport und geht abends auf Partys. Dennis Scheffel hat das auch alles gemacht. Früher. "Ich habe dieses Jahr einmal mein Bett verlassen. Weil ich zum Arzt musste", schreibt Dennis t-online.de. Ein Telefonat hätte vieles einfacher gemacht und manche Nachfragen erspart. Aber Dennis kann nicht telefonieren. Dennis kann sich kaum bewegen in seinem Bett in einem Einfamilienhaus in Reutlingen. Sein Körper ist zu schwach.
Tausende Schüler sollen demnächst bei einer Aktion für ihn gemeinsam nach Forschung schreien. Eine Spendenkampagne soll eine Operation ermöglichen, in die Dennis große Hoffnungen setzt. 110.000 Euro braucht er. Dafür machen auch Fußballfans – nicht nur seines Lieblingsklubs VfB Stuttgart – mobil.
"Krebs hätte man wenigstens behandeln können"
Gegen Dennis' Erkrankung gibt es bisher keine Medikamente, Forschung existiert kaum. "In 30 Jahren wird man fassungslos auf diese Krankheit als größten Medizinskandal dieses Jahrhunderts zurückschauen", glaubt er. Von 300.000 Erkrankten in Deutschland spricht Professor Dr. Carmen Scheibenbogen, die die Immundefekt-Ambulanz des Universitätsklinikums der Charité in Berlin leitet. Mehrere Hunderttausend Menschen, die meist von der Bildfläche verschwunden sind.
Sie leiden unter Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS). Bei der Krankheit, die auch als Chronisches Erschöpfungssyndrom bekannt ist, können sich Immunsystem, Nervensystem und Energiestoffwechsel nicht mehr richtig regulieren. "Ich wäre vielleicht der erste Patient gewesen, der sich über Krebs gefreut hätte. Denn das hätte man wenigstens behandeln können."
Spendenaktion für Operation
Zwei erfolgreiche Operationen in den USA wecken Hoffnung bei Dennis und anderen Erkrankten. Auch der spanische Neurochirurg Dr. Vicenç Gilete hat europaweit in den vergangen Monaten mindestens drei ME/CFS-Patienten operiert, bei denen sich Zeichen der Besserung zeigen sollen. Die zugrunde liegende Theorie ist, dass bei vielen ME/CFS-Patienten eine Instabilität der Halswirbelsäule vorliegt. Das wird bei Dennis auch vermutet. Bei dieser Erkrankung drückt die Wirbelsäule auf den Hirnstamm. Das schadet dem Nervensystem und könnte die Symptome auslösen, die Dennis verfolgen. Durch die Operation soll der Druck auf den Hirnstamm abgebaut werden. Die Aussichten sind ungewiss und die gesetzlichen Krankenkassen zahlen den Eingriff nicht. Deshalb hat seine Freundin die Spendenkampagne gestartet. Damit die Operation möglich wird, werden geschätzt 110.000 Euro benötigt. Am Montag waren bereits knapp 40.000 Euro beisammen.
Dennis schreibt häufiger solche Sätze, die man liest und nach denen man dann erst einmal schlucken muss. Er verweist dann auf eine Studie, wonach die Lebensqualität von Schwerstbetroffenen weitaus niedriger sei als bei AIDS, Krebs und MS im Endstadium. Darf man Krankheiten so gegeneinander aufwiegen? Wer will es Dennis verdenken?
Freundin hält zu ihm
Den ganzen Tag liegt er auf dem Rücken in seinem Bett. Auf seinem Bauch liegt sein Smartphone, mit dem er kommuniziert, wenn es seine Kräfte zulassen. Dennis schreibt unter der Woche oft mit seiner Freundin Nele. "Sie gibt mir Kraft." Nele Siekmann wohnt in Ludwigsburg und studiert dort Sonderpädagogik. Kennen gelernt haben die beiden sich vor vier Jahren während der Oberstufenzeit.
Sie durchlebt mit ihm seine Erkrankung. Nele besucht ihn jedes Wochenende, recherchiert viel zu der Krankheit und hilft ihm bei seinen Kontakten mit Ärzten und Medien. "Es ist aber gut, dass ich auch mein Leben in Ludwigsburg habe, um mich davon etwas abzugrenzen", erklärt sie.
Dennis wacht morgens auf und schreibt dann seiner Mutter, dass er wach ist. Manchmal sendet er eine Nachricht erst um 12 Uhr mittags. Der Hormonhaushalt ist gestört, erklärt er. Dadurch liegt er oft nachts wach. Dennis würde jetzt eigentlich in einer eigenen Wohnung auf eigenen Beinen stehen, nun ist er wie ein Kleinkind auf die Unterstützung seiner Eltern angewiesen.
Oft dicke Luft zwischen Mutter und Sohn
Die Stimmung zwischen Mutter und Sohn ist oft angespannt, sagt Nele. Vielleicht weil Dennis zu hohe Erwartungen hat, meint er. Eine andere, medizinische Erklärung hat Dr. Michael Matuschin, der Dennis alle zwei Wochen besucht, um Blutwerte zu überprüfen und ihm Infusionen zu legen. Wenn die Energiespeicher des Körpers leer seien, schütte der Körper bei weiteren Anstrengungen als Notmaßnahme Adrenalin aus – mit den typischen Folgen: Spannung, Gereiztheit und Nervosität. "Aggressivität und Verzweiflung sind an seine Krankheit gekoppelt." Was Dennis dazu schreibt, ist nicht unbedingt ein Widerspruch: "Dass es mir so geht, ist die deutliche Ausnahme."
Dennis' Mutter bringt ihm morgens und abends sein Essen und seine Nahrungsergänzungsmittel. Auf den Teller kann nicht irgendwas irgendwie: "Spaghetti müssen klein geschnitten sein. Sonst könnte ich sie nicht essen."
Seine Mutter hat einen Minijob an der alten Schule von Dennis. Sein Vater ist Sachbearbeiter in der Buchhaltung. Das Leben lief normal.
Im Oktober 2017 änderte sich das Leben
Als Dennis im Urlaub nach einem Saunagang am Tag der Deutschen Einheit 2017 extrem erschöpft war, dachte er sich zunächst noch nicht viel. Er wusste da noch nicht, wie sich jetzt sein Leben verändern sollte und dass seine gesundheitlichen Probleme ihren Anfang früher hatten.
"Die ersten Symptome hatte ich einige Jahre vorher bei einem Pfeifferschen Drüsenfieber. Nichts, um das ich mir große Gedanken gemacht hatte." Das Pfeiffersche Drüsenfieber wird durch das Epstein-Barr-Virus (EBV), eine Art Herpesvirus, ausgelöst. Das chronische Erschöpfungssyndrom kann durch Infektionskrankheiten wie Herpes entstehen.
"Der Saunagang hat das EBV wieder reaktiviert." Ab dem Urlaub ging es bergab. "Ich bin zehn Meter gegangen und musste eine Pause machen." Dazu entzündete sich seine Zunge und seine Haut. Er bekam Halsschmerzen, die nicht mehr verschwanden und seine Muskeln übersäuerten. "Mein Arzt meinte aber, dass ich gesund sei und ich mich ruhig mehr bewegen könne. Dadurch wurde mein Zustand immer schlechter."
Hausarzt nannte ihn Hypochonder
Später, berichtet er, hat ihn sein Hausarzt als Hypochonder bezeichnet. Es ist eine Geschichte, die andere Betroffene auch erzählen. Eine Studie der Georgetown Universität in Washington, D.C. bestätigt, dass Ärzte die Krankheit oft nicht ernst nehmen und falsch einordnen. Das wäre ein möglicher Grund, warum laut dem statistischen Bundesamt in Deutschland gerade einmal knapp 15.000 Krankenhauspatienten mit ME/CFS im Jahr 2017 diagnostiziert wurden.
Dennis wechselte den Arzt. "Für manche kommt es rüber, als sei ich einfach nur psychisch krank. Das ist aber nicht der Fall." Verschiedene Spezialisten konnten ihm trotzdem nicht sagen, was er hat. "Wir haben dann selbst recherchiert und sind auf die Krankheit ME/CFS gestoßen", erzählt Nele. "In der Uniklinik Tübingen haben die Mediziner verschiedene Krankheiten ausgeschlossen und aufgrund der passenden Symptome dann die Erkrankung ME/CFS diagnostiziert."
Bei Dennis stellten sich währenddessen auch noch Tinnitus, Migräne und bakterielle Entzündungen ein. "Ich könnte eine Din-A4-Seite mit meinen Symptomen füllen."
Cortison-Behandlung machte alles viel schlimmer
Das wesentliche Problem: Es gibt keine entwickelten Medikamente für die Erkrankung. Eine Handvoll Therapiestudien zeigten bislang nur widersprüchliche Effekte. "Man ist gezwungen, Medikamente auszuprobieren, ohne zu wissen, was die Folgen sind", so Dennis.
Ein Versuch, ihn mit Cortison zu behandeln, hatte schwerwiegende Folgen. Er bekam eine Blutvergiftung. "Mein Zustand hat sich dann dramatisch verschlechtert", schreibt er. Er ist fast an der Therapie gestorben. Seitdem ist er komplett bettlägerig, kann nicht mehr sprechen und hofft noch inständiger auf Hilfe.
Doch es gibt keine Forschung zur Therapie der Krankheit, sagt Dr. Bupesh Prusty, der in Deutschland als einer der führenden ME/CFS-Experten gilt. "Bisher gibt es dafür keine Fördermittel", so Prusty, der am Institut für Viren und Immunbiologie in Würzburg arbeitet.
VfB Stuttgart ruft zu Spenden auf
Wegen solcher Sätze fühlt sich Dennis herausgefordert und unternimmt immer wieder Vorstöße, etwas zu bewegen. Auch wenn er danach dann wieder ganze Tage völlig erschöpft ist. Er steigt in Diskussionen in Twitter ein, er hat seine Krankheitsgeschichte auf dem vor allem von jungen Menschen genutzten Portal Pr0gramm geschildert. Er hat Flyer erstellt und in Auftrag gegeben, er bringt sich bei Medien ins Gespräch. Dann ist er danach manchmal tagelang platt und antwortet nicht.
Derselbe Dennis, der im Winterurlaub kaum von seinen Skier zu trennen war und der als VfB-Fan in Stuttgart in der Kurve 90 Minuten Vollgas gegeben hat. Jahrelang hat er den weiß-roten Verein unterstützt. Jetzt hilft der VfB Stuttgart ihm, der Verein ruft zur Teilnahme an einer Spendenaktion für Dennis auf.
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Der einstige JU’ler Dennis, der den damaligen EU-Kommissar Günther Oettinger getroffen hat, mit JU-Freunden im Bundestag war und sich politisch engagieren wollte, hat auch im Oktober 2018 den CDU-Bundesgesundheitsminister Jens Spahn angeschrieben. Die Antwort ernüchterte ihn:
"Sie finden in Deutschland verschiedene Fördermöglichkeiten für die Erforschung medizinischer Möglichkeiten ... Auch Forscherinnen und Forscher können Anträge im Bereich ME/CFS dazu einreichen."
Der motivierte Parteinachwuchs von einst hat heute keine hohe Meinung mehr von den Parteien und der Regierung. Manchmal schreibt er Tweets, aus denen das Gefühl der Verlassenheit spricht. "SPD, Grüne, LINKE ignorieren mich, weil DEUTSCH und MÄNNLICH. (zu privilegiert, um Hilfe zu benötigen). CDU, FDP, AfD ignorieren mich, weil KRANK und BEHINDERT (wertlos, weil nicht erwerbstätig) und jetzt?"
Er ist frustriert von der Politik, und versucht doch ständig weiter sein Glück. "Ich bin dazu verdammt, weil ich sonst absolut keine Zukunft hätte." Sonst passiere ja nichts, weil sich gesunde Menschen ja nicht für die Betroffenen einsetzen, meint er. "Es kostet mich unfassbar viel Kraft und schadet mir, aber ich habe keine Wahl."
Blaue Schleife soll zu Symbol wie Aids-Schleife werden
Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Grünen war für ihn der nächste Schlag. Ich wollte mir nicht alles durchlesen. Es hat mich zu sehr aufgeregt", so Dennis. Die Bundesregierung wiederholt die Spahn-Aussage: Forschungsvorhaben könnten ja jederzeit im Rahmen von bestimmten Förderprogrammen beantragt werden.
Ärzte und Regierung schieben sich die Verantwortung gegenseitig zu, sagt der ME-Botschafter Mathias Ilka, Gründer der gemeinnützigen Organisation "50.000 und 1 Stimme". Bund und Länder verwiesen zusätzlich aufeinander. Ilka ist selbst Vater eines betroffenen jungen Mannes, er ist Gründer der Aufklärungsaktion "Blaue Schleife gegen ME/CFS – Ruf nach Forschung" und Freund der Familie von Dennis.
"Damit die Politik endlich aufwacht", plant er mit Dennis zusammen in Reutlingen eine Veranstaltung, bei der sich mehrere Tausend Schülerinnen und Schüler auf dem Rasen des SSV Reutlingen zusammenstellen und eine blaue Schleife bilden. Die Menschen, die in Form einer Schleife zusammenstehen, sollen dann gemeinsam das Wort "Forschung" schreien. Und bei der blauen Schleife, so die Hoffnung, werden Menschen irgendwann so selbstverständlich an ME/CFS denken wie heute bei der roten Schleife an AIDS.
Dennis habe sich gewünscht, dass diese Aktion in seiner Heimatstadt statt findet. "Die Schleife bauen wir, um die Erkrankten sichtbar zu machen. Sie liegen in den dunklen Zimmern und sind durch alle gesellschaftlichen Raster geflogen. Sie haben ihre Stimme und ihr Gesicht verloren", sagt Ilka. "Sie sind nur noch Gespenster für die Gesellschaft."
Und plötzlich wirkt Dennis fast euphorisch
Das Gespenst als Symbol wird online häufig mit der Krankheit in Verbindung gebracht. Unter dem Hashtag #MillionsMissing finden weltweit Protestaktionen statt, bei denen Menschen Schuhe aufstellen, die für Betroffene stehen, die selbst nicht mehr vor Ort sein können.
Auch Dennis war nur im Geiste dabei, aber er kämpft nicht weniger: "Ich habe es mir zum Lebensziel gemacht, dass keiner aus der nächsten Generation ertragen muss, was ich durchmachen musste und in Zukunft noch muss", schreibt Dennis.
Völlig gesund zu werden – daran denkt Dennis nicht mehr. Utopisch, meint er und hat irreversible Folgeschäden vor Augen. Aber die Möglichkeit der Operation hat ihm Hoffnung zurückgegeben: Symptomfrei zu sein von ME/CFS, könnte bei optimalem Verlauf möglich sein, glaubt er. Am Freitag hat er einen Tweet verschickt, der sich ganz anders liest als so viele der vergangenen Monate: "Es gibt in den letzten Tagen so viele Momente, in den ich einfach nur unfassbar glücklich bin. Muss immer grinsen, wenn ich realisier, dass ich nach fast zwei Jahren wieder eine ernsthafte Chance habe."
- Eigene Recherchen
- Statistisches Bundesamt
- Twitter-Account Dennis Scheffler
- Prof. Carmen Scheibenbogen, Charité Berlin: Chronisches Fatigue Syndrom
- Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
- 500.000 und eine Stimme
- Kleine Anfrage der Grünen: Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrome – Aktuelle Situation in Versorgung und Forschung