Angriffe in Stuttgart Woher kam die Wut? Experten rätseln weiter über Gewalt-Ausbruch
Die chaotischen Zustände in der Stuttgarter Innenstadt am Wochenende haben Politik und Polizei eiskalt erwischt. Der Bundesinnenminister will Polizisten besser schützen. Woher die Wut kam, ist die große Frage unter Experten.
Nach der Stuttgarter Chaos-Nacht mit Plünderungen und Randale von mehreren hundert Menschen verlangt Innenminister Horst Seehofer harte Strafen für die Täter. "Ich erwarte, dass die Justiz den Tätern, die gestellt werden konnten oder noch können, auch eine harte Strafe ausspricht", sagte der CSU-Politiker am Montag in Stuttgart. "Da geht es auch um die Glaubwürdigkeit unseres Rechtsstaates." Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) warf den Randalieren bei einem gemeinsamen Besuch am Ort der Auseinandersetzungen Landfriedensbruch vor und sprach von einer "Gewaltorgie".
Nach dem Ausbruch der Gewalt in der Nacht zum Sonntag wurden am Montag laut Polizei sieben Haftbefehle beantragt, unter anderem wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung. Am Vorabend waren bereits ein weiterer Haftbefehl erlassen und einer gegen Auflagen außer Vollzug gesetzt worden. Ein 16-Jähriger muss sich wegen versuchten Totschlags verantworten, weil er nach Angaben der Staatsanwaltschaft einem am Boden liegenden Studenten gezielt gegen den Kopf getreten haben soll.
Seehofer: "Alarmsignal für den Rechtsstaat"
Seehofer bezeichnete die Randale von Stuttgart als "Alarmsignal für den Rechtsstaat". Es gehe nicht nur um Gewalt gegen die Polizei, sondern auch um die Verunglimpfungen der Beamten mit Worten. "Aus Worten folgen immer auch dann Taten."
Gelegenheit zur Aufarbeitung in der Politik soll eine Sondersitzung des baden-württembergischen Innenausschusses am Mittwoch im Landtag (09 Uhr) geben. Dort will die Opposition Innenminister Thomas Strobl (CDU) ausführlich zur kriminellen Gewalt und zu Maßnahmen zum Schutz von Gesellschaft und Polizei befragen. Die Polizei hat angekündigt, in den kommenden Wochen mit verstärkten Kräften in Stuttgart unterwegs zu sein.
In der zentralen Stuttgarter Einkaufsstraße hatten Randalierer Schaufenster zerstört und Geschäfte geplündert. Auslöser für die Auseinandersetzungen soll die Drogenkontrolle bei einem 17-Jährigen gewesen sein, mit dem sich gleich mehrere hundert Menschen solidarisierten. Nach Angaben der Polizei waren 400 bis 500 Menschen an der Randale beteiligt. Am Montagmorgen war in der City kaum noch etwas zu sehen von den Schäden der chaotischen Nacht.
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Dennoch könnten die Ausschreitungen größere Spuren hinterlassen. Neben den politischen Konsequenzen wird im Stuttgarter Rathaus über die Folgen für den Handel und den Ruf der Stadt beraten. Die Deutsche Polizeigewerkschaft brachte ein Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen und eine Sperrstunde für Teile der City in die Debatte.
Stuttgarts Polizeivizepräsident Thomas Berger bezifferte den Schaden durch die marodierenden Gruppen auf einen sechs- bis siebenstelligen Betrag. Unter anderem wurden in der Nacht zum Sonntag 40 Läden beschädigt und zum Teil geplündert, zudem zwölf Streifenwagen demoliert, sagte der Leiter des Polizeieinsatzes während der nächtlichen Randale in einem Interview mit dem Journalisten Gabor Steingart. 19 Polizisten seien infolge "total enthemmter Gewalt" verletzt worden, einer davon brach sich das Handgelenk, sagte Berger.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) verurteilte die Krawalle scharf. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte in Berlin, die Szenen seien "abscheulich" gewesen und mit nichts zu rechtfertigen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier stellte sich demonstrativ hinter Polizeibeamte. "Wer Polizistinnen und Polizisten angreift, wer sie verächtlich macht oder den Eindruck erweckt, sie gehörten "entsorgt", dem müssen wir uns entschieden entgegenstellen."
Nach wie vor ist unklar, wie sich die Gewalt in der Nacht zum Sonntag so sehr entladen konnte. Ein politisches Motiv scheidet nach Einschätzung der Polizei eher aus: "Wir haben noch keine verdichteten Hinweise darauf, dass hier tatsächlich eine politische Motivation oder entsprechend auch eine religiöse Motivation hinter diesen Taten steckt", sagte die baden-württembergische Landespolizeipräsidentin Stefanie Hinz. Die Polizei geht von Menschen aus der sogenannten Party- und Event-Szene aus, die sich in den vergangenen Wochen immer wieder draußen getroffen und sich in den sozialen Medien mit ihrem Handeln inszeniert hätten.
Nach Einschätzung von Polizeivize Berger wollten sich die Täter in sozialen Medien in Pose setzen und skandierten unter anderem "Endlich ist in Stuttgart was los". Zudem hätten die Corona-Einschränkungen dazu geführt, dass junge Menschen sich zunehmend im öffentlichen Raum träfen. Diese Gruppe reagiere auf normale polizeiliche Ansprache sehr aggressiv.
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Auch der Kriminologe Christian Pfeiffer sieht in den Coronavirus-Beschränkungen eine Ursache für die Krawalle. "Da ist viel aufgestauter Ärger vorhanden", sagte er der "Augsburger Allgemeinen". "Wir haben viele Verlierer durch Corona." Hinzu komme, dass die Leute mehrere Wochen wie eingesperrt gewesen seien, wenn man es mit dem sonst vertrauten Leben vergleiche. "Menschen, die eingesperrt waren, sind aggressiver."
Der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion im Bundestag, Mathias Middelberg, warnte indes davor, zwischen Polizeigewalt in Deutschland und den USA "unangemessene Parallelen" zu ziehen. Mit dem Vertrauen gehe die Hemmung verloren, und manche meinten, selbst gegen die Polizisten zurückschlagen zu dürfen, sagte Middelberg ebenfalls der NOZ. "Die ideologische Stimmungsmache gegen unsere Polizei muss ein Ende haben."
Warnung vor Generalverdacht gegen Randalierer
Ähnlich argumentierte Andrea Lindholz (CSU), Vorsitzende des Innenausschusses des Bundestags. "Die Gewalt gegen Polizeibeamte steigt nicht nur in Stuttgart massiv an", sagte sie der "Passauer Neuen Presse". Gleichzeitig warnte sie vor vorschnellen Generalverdächtigungen. "Wir sollten uns die Täter genau ansehen und danach beurteilen, was wir verbessern müssen. Dazu brauchen wir erstmal belastbare Informationen."
Zum Schutz der Beamten wird die Bundespolizei nach Worten Seehofers nicht mehr einzeln oder zu zweit in einer Streife unterwegs sein, sondern künftig zu dritt. Es werde bei der Bundespolizei keine Streifen mehr geben unter drei Personen, um die Beamten im Alltag stärker zu schützen, sagte der Innenminister in Stuttgart. Das habe er bereits vor einigen Wochen beschlossen.
- Nachrichtenagentur dpa