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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewalt in Haiti "Sie erschießen Menschen und verbrennen ihre Körper"
Über 300 Banden wüten auf Haiti, die zwei größten wollen die Interimsregierung stürzen. Jetzt ist der Präsident zurückgetreten. Während Botschafter das Land verlassen, bleiben Hilfsorganisationen – unter schwierigsten Bedingungen.
Der deutsche Botschafter und elf weitere Personen sind am Sonntag mit zwei Hubschraubern aus Haiti evakuiert worden, berichtete die dominikanische Zeitung "Listín Diario". Sie seien nach Santo Domingo, die Hauptstadt der benachbarten Dominikanischen Republik, geflogen worden. Das Land teilt sich die Karibikinsel Hispaniola mit Haiti. Inzwischen bestätigte die Europäische Union, sie habe ihr gesamtes diplomatisches Personal aus dem Karibikstaat abgezogen und an einen sichereren Ort außerhalb des Landes gebracht.
Das Auswärtige Amt hat die Evakuierung gegenüber t-online ebenfalls bestätigt. Aus dem Auswärtigen Amt heißt es weiter: "Die Sicherheitslage hatte sich in den vergangenen Tagen massiv zugespitzt, sodass die Ausreise der Kollegen erforderlich wurde. Unsere Botschaft in Haiti ist eine Kleinvertretung und war entsprechend derzeit nur mit dem Botschafter und seinem Stellvertreter besetzt."
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Auch das US-Militär hat am Wochenende einen Teil des Personals der US-Botschaft in Haiti evakuiert und die Sicherheitsvorkehrungen vor Ort verstärkt.
"Es trifft Unschuldige"
Humanitäre Hilfsorganisationen bleiben bis auf Weiteres in der Region, auch wenn sie die Situation ebenfalls als hochproblematisch beschreiben. Tankred Stöbe war für "Ärzte ohne Grenzen" als medizinischer Koordinator im Januar in Haiti. Die Organisation betreut dort mehrere Projekte und Kliniken in den ärmsten Teilen der Hauptstadt Port-au-Prince, die inzwischen zu 80 Prozent von den rund 300 Banden der Stadt kontrolliert wird.
"Wenn die Sonne untergeht, kommt die Stadt zu erliegen. Ganze Straßenzüge verbarrikadieren sich." Schon lange gibt es weder eine verlässliche Polizei noch Krankenwagen in der Stadt. Trotzdem kommen im Schnitt jeden Tag um die 30 Menschen mit Schussverletzungen allein in die Klinik von "Ärzte ohne Grenzen". "Es sind Unschuldige, die zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Es gibt immer wieder Fälle, die wir in Deutschland retten können, auf Haiti aber nicht", sagt Stöbe.
Besonders betroffen: Frauen und Mädchen
Die Situation wird auch dadurch noch dramatischer, dass alle qualifizierten Menschen, denen es möglich ist, das Land verlassen – gerade Ärzte und Pfleger. Das sei menschlich verständlich, aber praktisch fatal. "Immer wieder werden auch unsere haitianischen Mitarbeitenden entführt", berichtet Tankred Stöbe. Entführungen sind eine Einnahmequelle der Banden, neben Drogen und Wegezöllen.
In besonderem Maße betroffen von den politischen Macht- und Kontrollkämpfen sind in Haiti Frauen und Mädchen. Über 4.000 Fälle sexualisierter Gewalt, vor allem Vergewaltigungen, hat "Ärzte ohne Grenzen" im vergangenen Jahr behandelt, mehr als je zuvor. Weitaus mehr betroffene Frauen schaffen es aber gar nicht, in die Klinik zu kommen. Sie trauen sich nicht, ihre Häuser zu verlassen, um nicht erneut vergewaltigt zu werden, oder wollen ihre Kinder nicht im Stich lassen.
"Was in Haiti neu ist: Hier passiert die Mehrheit der Vergewaltigungen durch die Banden, nicht im häuslichen Bereich", berichtet Tankred Stöbe. Ein Bandenchef habe etwa die 16-jährigen Mädchen eines Viertels vergewaltigt. Als er erschossen wurde, waren alle im Viertel erleichtert. Bis klar wurde, dass auch der nächste Bandenchef weiter vergewaltigt, jetzt aber auch die 12-jährigen Mädchen des Viertels. "Das ist die Grausamkeit des Alltags hier", sagt Tankred Stöbe.
"Kleine Kinder mit schweren Waffen"
Ähnliches berichtete der "New York Times" die Radiomoderatorin Blondine Tanis. Sie wurde im Juli von einer Bande in ihrer Straße entführt, mit dem Ziel, Lösegeld zu erpressen. Die Bande verkaufte sie dann an eine andere Bande, die sie neun Tage lang festhielt. Sie sagte, die Gewalt in Haiti sei mit nichts von dem zu vergleichen, was sie zuvor gesehen habe.
"Es gibt kleine Kinder mit schweren automatischen Waffen auf der Straße", sagte sie. "Sie erschießen Menschen und verbrennen ihre Körper ohne Reue. Ich weiß nicht, wie ich das qualifizieren soll. Ich frage mich, was mit dieser Generation passiert ist. Sind sie überhaupt Menschen?"
Ende Februar war in Haiti, wo Banden laut UN bereits etwa 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince kontrollierten, die Gewalt eskaliert. Die zwei mächtigsten der inzwischen rund 300 Banden hatten sich gegen die Regierung zusammengeschlossen.
Ihr Anführer, der Ex-Polizist Jimmy Chérizier alias "Barbecue", drohte mit einem Bürgerkrieg, wenn Interimspremierminister Ariel Henry nicht zurücktrete. Henry war auf einer Auslandsreise in Kenia und kehrte bisher nicht nach Haiti zurück. Er hält sich in Puerto Rico auf, nachdem ihm die Dominikanische Republik aufgrund von Sicherheitsbedenken keine Einreise gewährt hatte.
Nach der bisher nicht aufgeklärten Ermordung des gewählten Präsidenten Jovenel Moïse im Jahr 2021 führt Ariel Henry, ein 74-jähriger Neurochirurg, eine Interimsregierung. Er kündigte Wahlen an, allerdings erst im August 2025. In der Nacht zu Dienstag veröffentlichte Henry nur eine Videobotschaft, in der er seinen Rücktritt angekündigt hat. Haiti brauche Frieden und Stabilität. Nun soll ein siebenköpfiger Präsidialrat gegründet werden, der den Übergang hin zu Wahlen anleitet und einen neuen Interims-Premierminister bestimmt,
Verwüstung, Hunger und Aufgabe
Die Banden griffen unter anderem Polizeistationen, staatliche Einrichtungen und Flughäfen an – alle Flüge von und nach Haiti fallen nun schon seit Wochen aus. Die Banden befreiten aus zwei Gefängnissen mehr als 4.500 Häftlinge. Am Freitag griffen sie den Nationalpalast und das Innenministerium an. Die Gewalt legte große Teile des armen Karibikstaates lahm und verschärfte die bereits prekäre humanitäre Lage. Nach lokalen Medienberichten zeigt die notorisch unterbesetzte Polizei kaum noch Präsenz in den Straßen der Hauptstadt.
Die humanitäre Lage in Haiti war schon zuvor sehr angespannt. Laut UN litt fast die Hälfte der elf Millionen Bewohner des Karibikstaats unter akutem Hunger. Das Gesundheitssystem ist ebenfalls kurz vor dem Kollaps. Die Nahrungsmittelversorgung ist bedroht und der Zugang zu Wasser ist stark eingeschränkt. Der "Miami Herald" berichtet, dass es inzwischen zu einem "Massenexodus von Haitianern nach Südflorida" komme, die "dem Chaos entkommen" wollten.
Keine Lösung in Sicht
Vor 14 Monaten begannen die USA, auf eine Lösung der Vereinten Nationen für die zunehmend angespannte Lage in Haiti zu drängen. Kenia erklärte sich bereit, 1.000 Polizisten zu entsenden, um die gewalttätigen Banden zu kontrollieren, doch der Plan scheiterte immer wieder.
In der Vergangenheit gab es bereits militärische Interventionen, doch keine hat dem Land nachhaltig geholfen. Nach einer UN-Mission von 2004 bis 2017 beklagten sich Haitianer vor allem über sexuelle Übergriffe der Soldaten gegen Frauen und Mädchen. 2010 führte eine Verunreinigung eines Flusses durch Fäkalien der Friedenstruppen dann zu einer Choleraepidemie, an der mehr als 10.000 Menschen starben.
- Telefoninterview mit Tankred Stöbe, 11.03.2024
- New York Times: With Haiti in Chaos, a Humanitarian Crisis Is Rapidly Unfolding (englisch)
- listindiario.com: Evacuan personal de embajada de Alemania en Haití (spanisch)