Stiko-Chef bei "Markus Lanz" "Ich würde meine Enkel nicht impfen lassen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Der Vorsitzende der Ständigen Impfkommission bleibt dabei: Gesunde Enkel würde er nicht gegen Covid impfen lassen. Als SPD-Chef Walter-Borjans widerspricht, wird es dem Virologen zu bunt: "Das ist wohl nicht ihr Ernst."
Die Gäste
In der Corona-Pandemie prallen zwei gegensätzliche Welten aufeinander. Wissenschaftler haben kein Problem mit Unsicherheiten, mit Widerspruch, damit, ihre Position zu ändern. Der Politik ist das ein Graus. Sie verlangt klare Ansagen – jedenfalls, wenn andere für deren Folgen die Verantwortung tragen. Und so gerät die Demontage der Ständigen Impfkommission zum immer leichter dahingeworfenen Wahlkampfargument. Denn jetzt geht es um eine für Laien scheinbar leichtere Frage: Warum sollten Kinder und Jugendliche den für sie zugelassenen Corona-Impfstoff bitte schön nicht erhalten? Stiko-Chef Thomas Mertens aber blieb am Donnerstag bei "Markus Lanz" unbeirrt dabei, die Impfung nicht uneingeschränkt für alle 12- bis 17-Jährigen zu empfehlen, sondern nur für diejenigen mit einem besonderen Risiko. Das gilt selbstverständlich auch für seine eigene Familie.
Würden Sie Ihre Enkel impfen lassen?, wollte Lanz von dem Virologen wissen. "Nein, gesunde Kinder würde ich jetzt im Augenblick nicht impfen lassen", bekräftigte Mertens. Diese Auffassung habe er auch in seiner Familie vertreten. Der Wissenschaftler verstand den Grund der Frage schon tendenziell nicht. Er nannte es geradezu "grotesk", hätte er für sich persönlich eine andere Entscheidung gefällt, als es seine Kommission nach Auswertung der verfügbaren Daten und Studien für alle Kinder und Jugendlichen ab zwölf Jahren getan hat.
Stiko-Chef gegen SPD-Chef
Daran merkt man, dass Mertens kein Politiker ist. SPD-Parteichef Norbert Walter-Borjans warf Mertens vor, mit der Aussage zu seinen Enkeln nun letztlich ja doch eine Empfehlung an die Zuschauer zu senden. "Das hat auch etwas mit Kommunikation zu tun", kritisierte er. Zuvor hatte der Stiko-Chef beim Hin und Her um Astrazeneca bereits eingeräumt: "Da haben wir alle sicher viele Fehler gemacht, was die Kommunikation angeht." Bei der Enkel-Aussage aber riss dem bedächtigen Stiko-Chef der Geduldsfaden. "Sie sagen mir, ich soll jetzt, wenn ich in der Sendung bin, ein bisschen was Anderes sagen. Das kann dann wohl nicht ihr Ernst sein", ging er an Walter-Borjans an.
Der legte dem Stiko-Chef nahe, in so einer Situation dann lieber doch gar nichts zu sagen. Denn in seiner Position habe die Aussage nun mal ein anderes Gewicht, als wenn zum Beispiel er selbst sich entsprechend geäußert hätte. Das fiel grundsätzlich an diesem Auftritt des Co-Chefs der SPD auf: Ein Messen mit zweierlei Maß – je nachdem, von wem Aussagen und Handlungen stammen. Genau darauf hatte Lanz gesetzt. Er gab dem Wahlkämpfer erst eine schöne Steilvorlage, um sich erneut über die vermeintliche "Schönwetterpolitik" und mangelnde Verlässlichkeit des Unionskanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) aufzuregen. In dessen Bundesland Nordrhein-Westfalen gelten nun für Regionen mit einer Inzidenz unter zehn weitreichende Lockerungen.
Walter-Borjans attestierte Laschet deshalb eine "gewisse Sprunghaftigkeit" – und war damit zielsicher in Lanz' Falle getappt. Denn der konnte nun genüsslich ausbreiten, dass doch die sozialdemokratische Gesundheitsministerin in Sachsen, Petra Köpping, kürzlich ebenfalls bei einer Inzidenz unter zehn weitreichende Lockerungen verkündet hat. So entfällt etwa bei Großveranstaltungen mit bis zu 5.000 Besuchern die Maskenpflicht. Ist das also auch Schönwetterpolitik?, wollte Lanz wissen. In Sachsen sei aber kein Wahlkampf und Köpping habe auch nicht den Anspruch, Deutschland führen zu wollen, wand sich Walter-Borjans wenig überzeugend.
Seltsam blutleer wirkte auch seine Forderung, bei den Luftfiltern an den Schulen müsse "viel mehr Druck" gemacht werden. Im selben Atemzug bremste er jedoch Forderungen nach greifbaren Ergebnissen und meinte, die Umsetzung gehe nun mal nicht von heute auf morgen. "Wir haben den zweiten Corona-Sommer", warf Cerstin Gammelin von der "Süddeutschen Zeitung" angesichts vieler noch nicht ausreichend ausgestatteter Schulen ungeduldig ein. "Das kann man niemandem mehr erklären."
Impfungen und Schulschließungen
Klar ist: Sollten nach den Sommerferien und unmittelbar vor der Bundestagswahl wieder Schulschließungen drohen, werden Politiker die Verantwortung weit von sich weisen und mit dem Finger auf die Stiko zeigen. Deren Vorsitzender hingegen betonte: "Es ist nicht so, dass man die Schulen zumachen muss, wenn man nicht alle impft." Mit einer solchen Argumentation würden Eltern in die Irre geleitet. Der ehemalige ärztliche Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Ulm gab außerdem zu bedenken: "Wir haben neun Millionen Kinder, die unter zwölf Jahre alt sind. Die können wir ohnehin nicht impfen, weil es keinen zugelassenen Impfstoff gibt. Von daher ist es auch da problematisch zu sagen: Wir müssen alle impfen. Weil man das nicht kann."
Überhaupt ist die Frage der Impfung von Kindern für den Virologen im Kampf gegen das Coronavirus eher ein Nebenschauplatz: "Die Kinderimpfung ist im Grunde für Epidemiologe nur ein Seitenproblem." Würden Kinder und Jugendlichen nicht geimpft, sei zwar mit mehr Infektionen und auch etwas mehr Todesfällen zu rechnen. Diese Prognose gelte aber nur, wenn gleichzeitig die Erwachsenen nicht durchgeimpft seien. Der Virologe sah deshalb die Verantwortung vielmehr bei den Erwachsenen, sich jetzt im Sommer so weit wie möglich immunisieren zu lassen. Mit einer 75-prozentigen Durchimpfungsrate gebe es eine Chance, die nächste Welle abzuflachen. Und wer die Stiko derzeit für eher störend hält, dem gab Mertens mit auf den Weg: "Ich halte es für einen schlechten Rat, eine unabhängige Expertenkommission abzuschaffen, weil sie mal etwas sagt, was nicht genehm ist."
Apropos Kommission: Lanz wollte von Walter-Borjans noch wissen, warum SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz im Gegensatz zu Laschet ein solcher Solo-Kämpfer ist und sich damit ein Stück weit von seiner Partei distanziert. "Die Leute wollen eine Führungsperson sehen", erklärte der Politiker die Strategie und gab dem Gegner noch einen mit. "Ich glaube, dass Armin Laschet es anders macht, weil er glaubt, dass er diese Kommunikationsleistung nicht erbringen kann." So herzlich lachen hat man Lanz selten gehört. "Nicht schlecht. Das muss man sich trauen. Respekt", freute sich der Gastgeber.
- "Markus Lanz" vom 15. Juli 2021
- Infoblatt des Robert-Koch-Instituts zur Impfung von Kindern und Jugendlichen