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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Markus Lanz" zu Corona-Folgen "Das Vertrauen in den Staat ist verloren gegangen"
In der Corona-Pandemie ist wahnsinnig viel kaputtgegangen in unserer Gesellschaft, warnen die Gäste von "Markus Lanz". Sie fragen: Wie rechtfertigt der Staat das in ihn gesetzte Vertrauen?
Die Gäste
- Susanne Schreiber, Biophysikerin, Mitglied des Deutschen Ethikrats
- Harald Welzer, Soziologe, Direktor der Stiftung "Futurzwei"
- Verena Pausder, Unternehmerin, Vorsitzende des Vereins "Digitale Bildung für Alle"
- Julia Friedrichs, Autorin "Working Class – Warum wir Arbeit brauchen, von der wir leben können"
Kein einziger Politiker auf der Gästeliste – das war ein vielversprechendes Zeichen für die Ausgabe von "Markus Lanz" am Dienstagabend. Das erfüllte sich mit einer Sendung, die dank der Einmütigkeit der Anwesenden eine Tiefe entwickeln konnte, die sonst im Wettstreit der Positionen unerreichbar ist. Alle Gäste waren sich einig: Die Corona-Pandemie hat (mal wieder) Versäumnisse offenbart, die viel zu lange toleriert wurden, die sich Deutschland aber jetzt wirklich nicht länger leisten kann. Wollen wir tatsächlich in einem Land leben, in dem sich Arbeit und Verantwortungsgefühl nicht mehr lohnen, in dem Neinsager auf der sicheren Seite sind, Familien aber sehen können, wo sie bleiben?
"Das Vertrauen in den Staat ist verloren gegangen", attestierte die Unternehmerin und Gründerin Verena Pausder der Politik. Insbesondere Eltern hätten während der Pandemie feststellen müssen: "All das, was wir brauchen, funktioniert nicht." Von der Schul-Cloud bis hin zum digitalen Impfpass habe der Staat eins ums andere Mal seine Bürger im Stich gelassen. Noch nicht einmal für Wertschätzung für enorme Belastung während des Lockdowns habe es gereicht. "Ich habe immer auf eine große Ansprache gehalten: 'Liebe Eltern...'", sagte Pausder. Gekommen sei aber nichts.
Staat lässt Eltern im Stich
"Mich macht das immer noch wütend", sagte die Journalistin Julia Friedrichs. Familien hätten aus der Politik das gleichgültige Signal bekommen "Seht zu, wie ihr klarkommt". "Diese Hilflosigkeit haben alle Familien gespürt", sagte die Autorin. Die Pandemie habe die Ungleichheiten aber noch verstärkt, die Kluft zwischen Familien mit Garten und Familien in winzigen Hinterhofwohnungen vergrößert. Sie warnte davor, diese Verletzungen jetzt in der Freude über den Sommer und die Corona-Lockerungen zu ignorieren: "Die Starken kehren relativ schnell an ihren Platz zurück und die Anderen müssen gucken, wie sie mit ihren Narben umgehen."
Die Corona-Krise hat nach Ansicht der Expertenrunde einen Scheinwerfer auf eine Art Grundsünde der deutschen Gesellschaft gerichtet. Soziologe Harald Welzer attestierte ihr eine "skandalöse Ungleichheit", was die Aufstiegschancen anbelangt. Je höher man im Bildungssystem in Richtung Promotion oder Habilitation steige, desto geringer werde der Anteil der Menschen aus Arbeiterschichten. "Da ist fast niemand mehr da. Und das ist unfassbar", warnte der Publizist.
Noch in den 80er-Jahren war das ganz anders, erinnerte Friedrichs. Damals hätten Arbeiter die Gewissheit gehabt, ihre Familie ernähren und ihren Kindern eine bessere Zukunft bieten zu können. Diese deutsche Variante des amerikanischen Traums sei jedoch für viele arbeitende Menschen heute in weite Ferne gerückt. Die Reporterin macht das deutlich am Beispiel des Berliners Said, der U-Bahnstationen putzt und den sie seit langer Zeit begleitet. Der Familienvater kann sich laut Friedrichs heute weniger von seinem Lohn kaufen, als dies noch bei seinem Vater der Fall war. Said stünde mit Grundsicherung und ein bisschen Schwarzarbeit sicher finanziell besser da, wolle aber seinen Kindern mit seiner Arbeit ein Vorbild sein. Aber die Autorin warnte, was eine solche soziale Ausgrenzung, Geringschätzung und Perspektivlosigkeit für Folgen haben kann. "Es ist kein Selbstläufer, so ein Leben. Das ist hart für Leute, die keine Akademiker sind", unterstrich Friedrichs. Sie sorge sich, dass diese Menschen irgendwann zum Schluss kommen: "Das ist nicht mehr mein Land".
Die lähmende Angst vor Verantwortung
Aber warum funktioniert in Deutschland so vieles nicht?, wollte Lanz wissen. Die Gäste waren sich auch hier in ihrer Diagnose einig. "Es ist die Ängstlichkeit", sagte Pausder. "Mut wird nicht belohnt." Viele Schulleitungen hätten sich in der Not pragmatische Lösungen für den digitalen Unterricht gesucht, seien dann aber wegen Datenschutzbedenken zurückgepfiffen worden. Ähnliche Gründe hätten eine echte Corona-App sowie in Deutschland und Europa entwickelte Software-Lösungen für die Schulen verhindert. Stattdessen kämen nun allenthalben Programme von US-Konzernen zum Einsatz, siehe Zoom und Microsoft Teams, während Schüler im Unterricht selbst kaum auf die digitale Transformation vorbereitet würden. "Das führt dazu, dass wir irgendwann unmündige Anwender von amerikanischen und chinesischen Plattformen sind und selbst nichts mehr beizusteuern haben", warnte die Unternehmerin.
Biophysikerin Susanne Schreiber, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, sprach gar von einer "deutschen Angst". Die beschrieb die Professorin der Humboldt-Universität Berlin mit dem Motto "Ich möchte die Verantwortung nicht übernehmen, wenn da doch was ist." In dem Zusammenhang kritisierte sie, dass sich die Ständige Impfkommission nicht eindeutiger für die Impfung von Kindern und Jugendlichen gegen Covid-19 ausgesprochen habe.
"Ich finde diese Zurückhaltung und diesen Mangel, Verantwortung übernehmen zu wollen, ein ganz großes Problem in dieser Krise. Eigentlich bräuchte man so etwas wie eine Verantwortungsübernahmefähigkeitsprüfung", sagte Schreiber. "Dass man an Positionen, wo man wirklich Verantwortung übernehmen sollte, auch nur Personen hat, die bereit sind, das dann in solchen Situationen auch zu übernehmen und sich nicht nur hinter Gesetzen oder Regeln zu verstecken. Das würde uns helfen."
- "Markus Lanz" vom 29. Juni 2021