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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Tönnies-Fabrik Werksarbeiter in Fleischindustrie: "Die Leute werden beschissen"
Priester Peter Kossen beschäftigt sich schon lange mit den Zuständen von Werksarbeitern in der Fleischindustrie. Durch den Corona-Ausbruch bei Fleischfabrikant Tönnies flammt die Diskussion neu auf.
Priester Peter Kossen ist bekannt für seine deutlichen Worte. Er kämpft für faire Arbeitsbedingungen und setzt sich für die Rechte von Migranten ein. Zuletzt trat er auch immer wieder für die Rechte der Mitarbeiter aus der Fleischindustrie ein.
In seiner beratenden Tätigkeit als Priester seien ihm viele dieser Menschen begegnet, mit deren Problemen er konfrontiert worden sei. Seit diesen Erlebnissen beschäftigt sich der 52-Jährige tiefgreifend mit der Thematik. Durch die Corona-Krise flammt die Diskussion nun neu auf: Besonders der Tönnies-Konzern steht im Mittelpunkt. Über 1.500 Werksarbeiter der Firma infizierten sich und stehen unter Quarantäne, die Landkreise Gütersloh und Warendorf wurden mittlerweile erneut unter einen Lockdown gesetzt.
t-online.de: Herr Kossen, wo fängt die Problematik der Werksvertragsarbeiter eigentlich an?
Peter Kossen: Die Leute, die in Rumänien, Bulgarien oder Polen angeworben werden, sprechen kein Deutsch, haben wenig Geld. Damit haben sie ganz schlechte Karten auf dem begrenzten Wohnungsmarkt. Das heißt, die Migranten müssen das nehmen, was ihnen ihr Arbeitgeber anbietet. Das sind oft Schrottimmobilien, Bruchbuden, ehemalige Hotels, auch alte Molkereien oder Fabrikgebäude. Man hat schon Arbeiter in Ställen gefunden. Gebäude, in denen menschenwürdiges, gesundheitsförderndes Leben nicht möglich ist.
Sind zumindest sanitäre Anlagen vorhanden?
Das schon. Aber die Sanitäranlagen sind häufig defekt oder versifft, weil sie von zu vielen Menschen gebraucht werden. Die, die in die Wohnungen hineinkommen, berichten von Schimmelbefall, von kleinen, schlecht belüfteten Räumen, die völlig überbelegt sind. Auch Betten und Matratzen sind doppelt und dreifach belegt, weil im Schichtbetrieb geschlafen wird. Die Leute kommen nicht zur Ruhe.
Ist das rechtens?
Es wird nicht kontrolliert – und wenn, dann mit Ankündigung. Da findet man nur das, was gesehen werden darf. Man beruft sich außerdem immer auf die Unverletzlichkeit der Wohnung des Grundgesetzes. Das bedeutet, dass man ohne Ansage von oben nicht einfach in Wohnungen zur Kontrolle einmarschieren darf. Aber es lässt sich streiten, ob man diese Unterkünfte überhaupt Wohnungen nennen will oder ob das nicht eher "Behausungen" sind. In meiner Nachbarschaft steht ein altes Hotel, da sind 51 Namen an der Haustür. Das ist kein kleines Haus, aber nicht so groß, dass da 51 Leute mit dem Abstand leben können, wie wir ihn in Zeiten der Pandemie bräuchten.
Sie bemängeln aber nicht nur die Wohnverhältnisse, sondern den generellen Umgang mit Arbeitern aus Osteuropa in der Fleischindustrie.
Die Arbeit auf den Schlachthöfen war schon immer schwer und auch gefährlich. Es geht um zahlreiche Faktoren, die diese Menschen hochgradig gefährden. Dazu gehört auch die überlange und sehr schwere Arbeit, das Fehlen von Schutzkleidung und Schutzmaßnahmen. Die werden jetzt schon darauf achten – wenn sie nicht ganz dumm sind –, dass die Arbeiter zumindest einen Mundschutz tragen. Es laugt die Leute außerdem aus, jahrelang sechs Tage in der Woche zu arbeiten, zehn bis zwölf Stunden oder mehr am Tag. Mein Bruder ist Arzt und beschreibt es als eine nicht mehr zu regenerierende Totalerschöpfung.
Zurzeit konzentriert sich fast alles auf den Tönnies-Konzern. Zu Recht? Ist der Betrieb das eine "schwarze Schaf"?
Ich finde es gut, dass Sie das fragen, weil das den Blick weitet. Klar, mit Tönnies trifft es keinen Unschuldigen. Er ist gerade der Sündenbock. Aber da gibt es eine Reihe Entscheider in der Politik und besonders in der Wirtschaft, die das genauso brutal machen wie Tönnies: viele Hähnchen- und Putenschlachtungen oder auch andere große Schlachtkonzerne – das ist nicht nur Tönnies. Die, die es noch gibt, machen es bis auf ganz wenige Ausnahmen alle so – und sind genauso schuldig. Auch andere Branchen zeigen zum Teil ganz ähnliche Ausbeutungen: bei Paketdiensten, im Handel, auf dem Bau, im Reinigungsgewerbe. Zu viele Menschen halten das für normal.
Meinen Sie mit den Menschen Politiker oder auch die Bevölkerung?
Ich meine auch die Bevölkerung, die gerne glauben will, dass es eine Win-Win-Situation gibt. Faktisch stimmt das aber nicht. Es ist zynisch, das zu behaupten. Die Leute werden beschissen, verschleißen hier ihre Gesundheit und ihre Perspektiven, ohne dass sie etwas gewinnen. Mir ist nie klar geworden, warum diese Leute hier zu schlechteren Konditionen arbeiten, als ihre deutschen Kollegen. Dass in Rumänien weniger Geld verdient wird, mag sein. Aber wer in Deutschland schwerste Arbeit tut, muss hier auch einen angemessenen Lohn bekommen. Wo bleibt die Wertschätzung?
Dabei ist Deutschland für Außenstehende oft noch das Vorzeigeland schlechthin ...
Ja, das höre ich oft. In Rumänien gibt es noch die Überzeugung, Deutschland sei ein Staat, in dem Recht und Ordnung herrschen. Da komme man zu seinem Recht. Da müsse man zwar hart arbeiten, bekomme dafür aber auch aber eine echte Chance. Die, die es probiert haben, sind mittlerweile verbittert. Sie haben es hier am Ende anders erlebt.
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Haben Sie mit vielen gesprochen?
Über die Jahre hinweg ja. Die Leute realisieren, in was sie hineingeraten sind. Die sind nicht doof. Sie werden aber getrieben und sind alternativlos. Aber es ist nicht so, dass sie nicht mitkriegen würden, was mit ihnen gespielt wird. Das System funktioniert aber auch, weil die Leute klein gehalten werden und verhindert wird, dass sie Deutsch lernen. Das macht sie manipulierbar.
Sie fordern schon sehr lange, dass sich dabei etwas ändern muss. Sind Sie in gewisser Weise froh, dass es nun zu diesen Vorfällen gekommen ist, damit sich jetzt wirklich etwas bessern kann?
Der Preis ist ein sehr hoher. Es waren einige Menschen auf der Intensivstation. Aber ich bin froh, dass jetzt so viel in Bewegung gekommen ist. Bis vor 14 Tagen kam man an Leuten wie Tönnies politisch überhaupt nicht vorbei. Er schien ein unverrückbarer Fels in der Brandung zu sein. Aber jetzt ist die Chance, es besser zu machen. Meine Hoffnung ist, dass es für alle Beteiligten und besonders die Leidtragenden besser wird.
Ist es für Sie nicht auch ein wenig frustrierend, dass trotz Ihres jahrelangen Einsatzes erst jetzt etwas passiert?
Ich glaube, das geht Politikern und sämtlichen gesellschaftlichen Akteuren so: Manchmal könnte man etwas zynisch werden. Das hilft nicht weiter, sondern zieht einen runter. Wenn man aber einzelne Biografien und Lebensträume von Menschen kennt, die wirklich etwas erreichen wollen, wird wieder klar: Dafür lohnt es sich, zu kämpfen.
Oft haben die Menschen keine andere Wahl oder wissen ja gar nicht, was sie überhaupt für Rechte haben. Wie könnte man dem in Zukunft vorbeugen?
Die große und wichtige Herausforderung wäre die der Integration und Wertschätzung. Wir müssen verstehen: Das sind nicht die Spargelstecher, die drei Monate kommen, mit 5.000 Euro nach Hause gehen wollen und dafür alles in Kauf nehmen. Das sind oft Leute, die hier ihren Lebensschwerpunkt gewählt haben und trotzdem in Situationen feststecken, die man niemandem dauerhaft zumuten darf. Integration heißt: Sprache lernen und so in der Gesellschaft ankommen. Da hängen viele Fragen dran. Sie sind aber lösbar, weil die Gesellschaft demografisch sehr profitieren würde.
Die Sprache ist also der Schlüssel zu einer langfristigen Verbesserung?
Die Integration insgesamt ist wichtig, damit diese Menschen eine Stimme haben. Von Geflüchteten mit einem Status im Land wird auch zu Recht verlangt, dass sie die deutsche Sprache lernen. Aber von den Arbeitern, die in einer viel größeren Zahl hier sind, wird ausgegangen, dass sie die gar nicht lernen wollen. Dabei brauchen sie dafür einfach nur mehr Zeit und Unterstützung. Wenn Werkverträge verboten werden, ist das ein wichtiger, aber eben nur erster Schritt. Wenn sich aber die Haltung gegenüber den Arbeitern in der Gesellschaft und Wirtschaft nicht ändert, haben wir noch nicht so viel gewonnen.
Sie hatten diese Strukturen öfter als Sklaverei betitelt. Viele Leute finden das zu drastisch formuliert. Sie nicht?
Ich halte das für gerechtfertigt. Die Leute kommen freiwillig, wenn man von Not getrieben für freiwillig hält, und nutzen die Arbeitnehmerfreizügigkeit Europas. Oft werden ihnen aber schon bei der Anwerbung Sachen versprochen, die hier schlichtweg nicht eingehalten werden. Sie machen sich voller Hoffnung auf den Weg. Dann wird ihnen hier zuerst ein Berg an Schulden vor die Füße gelegt: Kosten für den Transport, die Vermittlung der Arbeit, die Bereitstellung der Schutzkleidung, Werkzeug und den Schlafplatz. Sie werden aufgefordert, diesen Berg abzuarbeiten. Und das dauert lange. Das ist alles völlig ungesetzlich. Aber wo kein Kläger, da kein Richter.
Und das ist wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs?
Auf jeden Fall. Das geht bis hin zu willkürlichen Strafgeldern und Abzügen vom Lohn, nicht ausbezahlten Stunden, Vorenthaltung von zustehendem Lohn. Reisepässe werden abgenommen. Die Leute werden mit körperlicher und psychischer Gewalt in eine Abhängigkeit gebracht. Internationale Rocker-Kriminalität spielt da auch eine große Rolle. Denn die Rocker kennen sich mit Menschenhandel, Gewaltdelikten und Zwangsprostitution aus. Das sind die gleichen Vermittlerstrukturen. Die Arbeiter der Fleischindustrie sind nur ein Teil dieses Menschenhandels. Das zieht weite Kreise. Wir sollten die Krise jetzt als Chance nutzen!
Herr Kossen, vielen Dank für das Gespräch.