Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Neue Regeln Diese Corona-Beschlüsse sind noch keine Strategie
Kanzlerin und Ministerpräsidenten verlängern die wesentlichen Corona-Beschränkungen. Wer eine vollständige Exit-Strategie erwartet hatte, wurde enttäuscht. Aus gutem Grund.
Auf diesen Tag haben wir gewartet. Seit Ende März. Eine gefühlte Ewigkeit ist das her. Die Ministerpräsidenten und die Kanzlerin wollten uns sagen, wie es weitergeht. Wann Läden wieder öffnen dürfen, wann wir aus dem Home Office zurückkehren, wann unsere Kinder wieder in Schulen und Kitas können, wann Veranstaltungen wieder stattfinden. Eine politische Entscheidung haben wir erwartet.
Eine Lockerung der Beschränkungen könne es geben, hieß es im Kanzleramt noch vor zehn Tagen, wenn die Corona-Verdopplungszeit auf etwa 10 bis 14 Tage ansteige. Die liegt inzwischen bei 32,8 Tagen.
Nun verlängern Kanzlerin und Ministerpräsidenten die "Kontaktsperre" bis Anfang Mai. Nur kleine Läden bis 800 Quadratmeter Fläche dürfen wieder öffnen, außerdem Zoos, Bibliotheken, Buchhandlungen, Autohändler. Alle anderen müssen 14 weitere Tage warten. Schulen und Kitas bleiben geschlossen. Hotels bleiben geschlossen. Kirchen bleiben geschlossen. Friseure bleiben geschlossen. Auch unser Home Office bleibt uns erhalten.
Warum wir weiter warten müssen? Ministerpräsidenten und Kanzlerin haben beschlossen, was derzeit nach besten Wissen und Gewissen nicht falsch ist. Ihr Vorgehen lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Vorsicht.
Vorsichtig, ganz vorsichtig sollen wir unser normales Leben wieder leben können.
Die nächsten zwei Wochen sollen Kultusminister und Innenminister nutzen, um weitere Konzepte zu erarbeiten. Am 30. April soll erneut beraten werden.
Aber ist das vorsichtige Vorgehen auch richtig, angesichts der sich positiv entwickelnden Zahlen? Wie positiv müssen sie sein, damit weitere Lockerungen gerechtfertigt sind? Wann dürfen beispielsweise alle Kinder wieder in Schulen und Kitas? Wann dürfen alle Läden wieder öffnen? Das bleibt auch heute unklar.
Die politische Formel lautet: Die "erreichten Erfolge" nicht gefährden.
"R" ist die neue Kennziffer
Die Experten haben für diesen "Erfolg" inzwischen eine neue Kennziffer. Gestern hatte Kanzleramtschef Helge Braun vor Vertretern der Bundesländer referiert: Ziel sei, dass künftig jeder Infizierte maximal einen weiteren Menschen anstecke (solange kein Impfstoff existiert). Die Experten nennen das "R = 1,0". Das RKI warnte vorgestern bei einem Wert von 1,2, lockere man zu früh oder an den falschen Stellen, drohe der Kollaps des Gesundheitssystems. Am heutigen Mittwoch liegt der Wert schon bei 1,0.
Die Politik versucht, ihre Maßnahmen an diesen Zahlen zu orientieren. Da sich die Zahlen täglich ändern und schwanken, ist es ein schwieriges Unterfangen. Schon bei einer Quote von 1,2 fürchtet das RKI eine Überlastung des Gesundheitssystems Mitte Juli, bei einem Wert von 1,1 Mitte Oktober.
Angela Merkel bewertete die aktuelle Situation heute so: Man habe einen "zerbrechlichen Zwischenerfolg" erreicht. Nicht mehr.
Zudem sind sich die Experten uneinig, durch welche Lockerungen die Infizierten-Zahlen wieder steigen könnten, wann und wo neue Infektionsherde zu befürchten sind. In Supermärkten? Im öffentlichen Nahverkehr? An Ampeln? In Büros? In Schulen? In Kitas? Wer kann schon sagen, wo das Virus massiv überspringt.
Studie: Keine Infizierten unter zehn Jahren
An einem Beispiel wird die Uneinigkeit der Wissenschaftler besonders deutlich: So empfehlen die Experten des RKI, jüngere Kinder nicht in Kitas und Schulen zu lassen, weil sie nicht in der Lage sind, Abstand zu halten. Die Wissenschaftler der Leopoldina empfehlen dagegen, jüngere Schüler wieder zu unterrichten. Eine Corona-Studie in Island unter 13.000 Menschen gibt für die Jüngsten völlige Entwarnung – dort fanden sich überhaupt keine Corona-Infizierten unter zehn Jahren.
An welcher Expertenmeinung sollen sich Politiker da orientieren?
Was die Politik also heute abgeleitet hat, ist dies: Ab dem 4. Mai beginnt "schrittweise" wieder der Unterricht. Erst Abschluss- und Übergangsklassen. Dann irgendwann die anderen. Die Kultusminister sollen bis zu diesem Termin Details vereinbaren, wie das gehen kann. Klassen teilen? Pausen versetzt anbieten? Alles wenig praktikabel, sagen Lehrer bislang.
Die Krux liegt darin, dass Erfahrungswerte fehlen, an denen sich Entscheider orientieren können. Experten wissen wenig darüber, wann genau die Übertragungsgefahr am größten ist. Und wir alle haben wenig Erfahrung, wie wir den Abstand zwischen uns organisieren können. Wann reicht der Abstand in Bibliotheken, in Kirchen, in Schulen aus? Ob mit bestimmten Lockerungen das "R" bei 1,0 oder 1,3 liegen wird, wer kann das schon sagen? Die Politik versucht Antworten zu geben. Ohne sicher sein zu können.
Kanzleramt zögert Lockerungen hinaus
Was die Kanzlerin nicht erwähnt hat: Im Kanzleramt fürchtet man, einmal erlaubte Lockerungen könnten kaum rückgängig gemacht werden. Wenn Kinder wieder zur Schule gehen, wäre es schwer, sie in zwei Wochen wieder nach Hause zu schicken. Wenn Menschen aus dem Home Office zurückkehren, würden sie sich beschweren, später wieder zuhause bleiben zu müssen.
Bestimmte Maßnahmen könnten sich auch als falsch herausstellen. Das aber ist wenig vermittelbar. Die Politik bleibt deshalb vorsichtig. Darunter leiden am Ende alle: Eltern die mit Kindern weiter im Home Office arbeiten, Opfer häuslicher Gewalt, Menschen die ihren Job verlieren, alle die auf Einnahmen von Besuchern angewiesen sind.
Was spricht gegen Öffnung von Hotels und Kirchen?
Wir täten gut daran, zu verstehen, dass Corona-Lockerungen getestet werden müssen. Was spricht beispielsweise dagegen, Kirchen und Hotels zu öffnen, oder größere Geschäfte, solange dort Abstand gehalten wird? Oder Restaurants, wenn sie Tische weiter auseinander stellen? Warum keine Maskenpflicht für Orte, wo Menschen sich zu nahe kommen? Kurzum: Wir brauchen vielfach gute Ideen für sinnvolle Regelungen.
Als Merkel in der Pressekonferenz gefragt wurde, was denn eigentlich die Strategie für weitere Lockerung sei, blieb sie eine präzise Antwort schuldig.
Vorsicht ist gut, Zaghaftigkeit nicht. Wir müssen lernen, welche Maßnahmen die Verbreitung des Virus wirklich sinnvoll eindämmen. Dabei muss die Wissenschaft helfen. Es braucht aber auch mutige politische Entscheidungen. Dazu eine Fehlerkultur, die mitträgt, wo Entscheidungen revidiert werden müssen. Eine solche Kultur des dynamischen Lernens muss die Politik vorleben. Und wir müssen sie mittragen. Dann haben wir aus der Krise etwas gelernt.
- Eigene Recherchen