Eindringliche E-Mails Urlauberin warnte Ischgl vergebens vor Corona-Desaster
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Das Coronavirus kam ins österreichische Ischgl und fand daraufhin seinen Weg nach ganz Europa. Eine Touristin hatte die Geschehnisse vorhergesagt, doch sie verzweifelte an den Reaktionen.
Es hätte jedem auffallen können, meint Lieke Wouters: Auffallen, dass Aprés Ski-Spaß in Ischgl und bestätigte Covid-19-Fälle aus Ischgl nicht zusammenpassen. Die Niederländerin hat bereits am 6. März wegen des Coronavirus ihren Skiurlaub in Ischgl abgesagt und an den Ort eindringliche Warnungen geschickt, die Urlauber zu warnen. "Wir sind schockiert davon, wie ignorant die Tourismusbüros von Tirol und Ischgl waren", berichtet sie t-online.de.
Man möge sich dringend mit Island kurzschließen und die Urlauber warnen, hatte Lieke Wouters gebeten. Das ist nicht ihr richtiger Name, sie möchte nicht in der Öffentlichkeit stehen. t-online.de liegen ihre alarmierenden Mails und die lapidaren Antworten aus Tirol vor. Tirols Landeshauptmann Günter Platter hat inzwischen erklärt, den E-Mails werde wie vielen neuen Informationen nachgegangen. "Da wird sich eine Behörde kümmern. Wenn notwendig, werden auch die Anzeigen gemacht." Zuerst machte das österreichische Semiosblog die Mails öffentlich.
"Zehn Fälle Anfang März waren sehr schlechte Nachrichten"
Es ist 12.54 Uhr am 6. März, als Wouters auf Absenden klickt und der Tourismusverband Ischgl-Paznaun Post aus den Niederlanden bekommt. Eigentlich wäre Wouters mit Familie selbst auf der Autobahn dorthin unterwegs. Eine WhatsApp-Nachricht am Abend hat den Plan zerschlagen.
Eine Bekannte hatte zufällig eine Schlagzeile gesehen und weitergeleitet, dass es in Island zehn bestätigte Fälle aus Ischgl mit dem Coronavirus gibt. Wouters zu t-online.de: "Zehn Fälle aus einem Ort, das waren Anfang März noch sehr schlechte Nachrichten und bedeuteten ein Cluster mit dem möglichen schlimmsten Szenario eines Ausbruchs vielerorts."
Genau das geschah. Inzwischen haben Österreichs Behörden ermittelt, dass sich 573 in Österreich lebende Menschen das Virus direkt im Skigebiet Ischgl eingefangen haben. Europaweit dürfte es ein Vielfaches der Zahl sein. 4000 Betroffene haben sich beim österreichischen Verbraucherschutzverein VSV gemeldet, der eine Sammelklage anstrengen will. "80 Prozent sind aus Deutschland", erklärte Obmann Peter Kolba auf t-online.de-Anfrage.
"Wollen Sie, dass wir uns einfach anstecken?", fragt die Niederländerin in der Mail an das Tourismusbüro. Sie habe in letzter Minute storniert. "Aber Tausende Leute kommen nach Ischgl, die nichts vom aktuellen Risiko wissen." Sie appelliert: "Sie sollten das Risiko-Niveau ändern und die Menschen informieren!"
Wouters ist bereits wütend: Sie sei "wirklich geschockt, dass keine der Internetseiten von Österreich, Tirol und Ischgl die zehn Fälle erwähnt", heißt es in ihrer Mail. "Ich denke, Sie sollten sich schämen, ihre kommerziellen Interessen über unsere Gesundheit zu stellen."
Die Mail hätte fürs Tourismusbüro keine Überraschung sein dürfen. Am Nachmittag des Vortags, am 5. März, hatte der Geschäftsführer Post von Islands Gesundheitsbehörde bekommen."14 Fälle in Island mit erst kurz zurückliegenden Reisen nach Ischgl sind bestätigt", zitiert der "Spiegel" aus der Nachricht der Isländer. Tirols Sanitätsdirektor Franz Katzgraber hatte an diesem 5. März öffentlich erklärt, es sei "aus medizinischer Sicht wenig wahrscheinlich, dass es in Tirol zu Ansteckungen gekommen ist“.
Bei isländischer Hotline nachgefragt
Auf diese Erklärung aus Österreich war auch Lieke Wouters gestoßen, als sie nach Informationen zu Ischgl und dem Virus gesucht hatte. Sie hatte schon am Donnerstagabend, 5. März, die Hotline-Nummer gewählt, die Island für Ausländer mit Fragen zum Coronavirus eingerichtet hat. Die Isländer hatten am Telefon ihre Erkenntnisse bekräftigt.
Deshalb ist der Skifan aus Holland verwundert angesichts der Antwort-E-Mail aus Ischgl. Der Geschäftsführer des Tourismusverbands wiederholt, was der Landessanitätsdirektor verkündet hatte: Wahrscheinlich haben sich die Isländer im Flieger angesteckt, aber nicht in Ischgl. Die Behörden in Österreich hätten die Situation sehr gut unter Kontrolle. "Wenn es irgendwelche konkreten Neuigkeiten gibt, wird Tirols Regierung umgehend informieren."
Sie antwortet prompt: "Bitte rufen Sie die isländischen Behörden an und hören sich deren Erklärung an, statt nur der Stellungnahme zu vertrauen." Sie schickt die Nummer mit. Islands Gesundheitsdirektion erklärte auf Anfrage von t-online.die, die Mitarbeiter an der Hotline seien sehr gut geschult und hätten alle Informationen zum Fall Ischgl.
"Vielleicht ist es jetzt zu spät"
Wouters weiß nicht, dass in Ischgl gerade die Hotels der betroffenen Isländer von den Behörden informiert werden. Sie schreibt dorthin: "Ich vermute immer noch, dass Sie nicht wollen, dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Vielleicht ist es jetzt schon zu spät."
Vom Tourismusverband kommt die knappe Antwort. "Hallo. Wir vertrauen unseren Behörden hundertprozentig."
Zum Wochenende werden viele Tausende Touristen neu in der Region erwartet, mehr als 20.000 Gästebetten zählt der TVB Paznaun-Ischgl in Hotels, Ferienwohnungen und Privatunterkünften. Und die, die in Ischgl gefeiert haben, fahren heim.
Lieke Wouters ruft nun noch einmal die Hotline in Island an. Wieder sagt man ihr dort, dass sich die Menschen in Ischgl angesteckt haben müssen. Zum Teil hätten sie dort bereits Symptome gehabt. Eine Ansteckung auf dem Rückflug scheide zeitlich aus, weil dann die Symptome erst später aufgetreten wären.
Es klingt sehr überzeugend. "Sie [die Isländer] sind sich absolut sicher, dass die Infektion [der Isländer] in Ischgl begonnen hat statt während des Flugs", schreibt sie noch einmal nach Österreich.
Erste Erkrankte am 8. Februar?
In Ischgl wurde am 7. März bekannt, dass ein Barkeeper des "Kitzloch" positiv getestet wurde. Das Land Tirol pocht darauf, dass damit die Corona-Zeitrechnung im Ort beginnt. Die staatseigene Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit geht heute davon aus, dass eine Kellnerin des "Kitzloch" bereits am 8. Februar erkrankte und der Chef der Aprés-Ski-Bar am 27. Februar. Die örtlichen Behörden hätten davon nichts wissen können, sagte eine Ages-Sprecherin. Die Kellnerin sei nach dem Fall des Barkeepers positiv getestet worden und habe angegeben, Wochen zuvor Erkältungssymptome gehabt zu haben. Die Staatsanwaltschaft ist inzwischen eingeschaltet, nachdem das ZDF berichtet hat, ein solcher Fall sei im Ort bekannt gewesen.
Wieder kommt die Antwort aus dem Wintersportort schnell: "Tut mir leid, wenn ich mich wiederhole, aber die österreichischen Behörden sind dran und checken alle Fälle."
Die Niederländerin hat verstanden und gibt auf. Aber sie hat auch "Tirol – Herz der Alpen" auf Facebook angeschrieben, die Seite der Tirol-Werbung. Am Samstagabend, 7. März, kommt von dort Antwort. Es ist nur der Link zu einer Fragen-und-Antworten-Seite, die Wouters schon kennt, auf der aber die Island-Fälle nicht thematisiert werden. Genau das antwortet sie dem "Herz der Alpen".
Tirol-Werbung verwies auf RKI
Die Tirol-Werbung schreibt am Montagmittag zurück, man habe volles Vertrauen in die Entscheidungen und Handlungen der lokalen und der österreichischen Behörden. Und dann wird es fast absurd. Der Tiroler Verband verweist darauf, dass das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) Ischgl nicht als Risikogebiet eingestuft hat, weil es keine offiziell bestätigten Fälle gebe.
Der Fall eines positiv getesteten Barkeepers ist da schon öffentlich, und an dem Tag werden 15 positive Testergebnisse aus seinem Umfeld bekannt. Drei Stunden nach der Antwort greift Wouters das in ihrer letzten Nachricht an den Tourismusverband auf: "Es ist höchste Zeit, über Ischgl als Risikogebiet zu sprechen, anstatt zu erklären, dass alles sicher und unter Kontrolle ist." Es ist der 9. März, 17.04 Uhr.
Die Après-Ski-Bars dürfen an dem Abend nicht mehr öffnen. Am 13. März wird das Paznaun-Tal unter Quarantäne gestellt und das RKI erklärt abends ganz Tirol zum Risikogebiet. Am 14. März morgens treten Österreichs Gesundheitsminister Anschober und Innenminister Nehammer vor die Presse: Es ist ein dringender Aufruf an alle Personen, die seit dem 28. Februar in den Skigebieten Ischgl, St. Anton und Heiligenbluth waren: Begeben sie sich in Selbstisolation."
- Eigene Recherchen
- semiosis.at: 6. März: Bitte kontaktieren Sie dringend die isländischen Behörden
- ORF.at: Tirol fordert „Aufklärung“ von AGES
- spiegel.de: Das Ischgl-Protokoll (Abo-Inhalt)
- Youtube: Pressekonferenz Ages zum Ischgl-Cluster
- orf.at: Erster CoV-Fall: Minister Anschober korrigiert Angaben
- Youtube: Pressekonferenz Land Tirol vom 3. April
- Statistikbehörde Tirol: Der Tourismus im Winter 2018/2019