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Islam: "Im Koran steht aber..." – ein Argument, das keines ist


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Suren-Pingpong
"Im Koran steht aber..." – Das ist kein Argument


Aktualisiert am 29.11.2019Lesedauer: 4 Min.
Mann liest Koran: Es gibt keine allgemeingültige Auslegung der Koransuren.Vergrößern des Bildes
Mann liest Koran: Es gibt keine allgemeingültige Auslegung der Koransuren. (Quelle: Joel Carillet/getty-images-bilder)
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Im Koran stehen gewaltfördernde und frauenfeindliche Suren? Das ist keine Ausrede für islamfeindliche Parolen. Denn der Inhalt des Korans wird selbst von Muslimen ganz unterschiedlich interpretiert.

Den Koran, Koransuren, also die einzelnen Kapitel des Korans, oder einzelne Ausschnitte kann man nicht ohne den historischen Kontext betrachten. Wie bei vielen anderen heiligen Schriften, zum Beispiel der Thora im Judentum oder der Bibel im Christentum, spielen Kontext und Interpretation eine entscheidende Rolle.

Wer einen Text verstehen will, muss die nötige Kompetenz besitzen, ihn zu lesen: Der Koran wird in der Regel nicht wortwörtlich gelesen, Gelehrte ziehen andere Koranzitate hinzu, sie betrachten den jeweiligen Anlass zur Offenbarung dieser oder jener Sure und nähern sich so der Intention der jeweiligen Stelle. Wer religiöse Texte interpretieren möchte, braucht Erfahrung im Umgang mit religiöser Sprache. Das gilt nicht nur für den Koran, sondern auch für den Umgang und die Interpretation anderer heiliger Schriften. Warum ist das wichtig? Weil die Umstände, unter denen diese Schriften entstanden, ganz andere waren, als die, unter denen wir heute leben. Wortwörtliches Suren- oder Bibelzitat-Pingpong bringt also niemanden weiter.

Viele Passagen des Korans sind nicht eindeutig zu interpretieren

Leider ist Suren-Pingpong sehr beliebt. Immer wieder werden zum Beispiel Suren zitiert, die zu Gewalt aufrufen, um zu beweisen, dass der Islam eine kriegerische Religion sei. Gekontert wird dann mit Koranaussagen über Gottes Barmherzigkeit. Das Spiel funktioniert also in alle Richtungen. Was dabei untergeht: wie der Koran wirklich zu interpretieren ist.

Was stimmt: Einige Koranverse sind als gewaltfördernd auslegbar, einige rechtfertigen auch die Gewalt gegenüber Ungläubigen. Was auch stimmt: Viele Passagen des Korans sind nicht eindeutig zu interpretieren. Extremistinnen und Extremisten nutzen das, um die Anwendung von Gewalt zu rechtfertigen. Es wird gerade dann problematisch, wenn einzelne Verse zitiert und so aus dem historischen Kontext gerissen werden. Viele davon beziehen sich nämlich auf konkrete Geschehnisse und Auseinandersetzungen zur Zeit des Propheten Mohammed. Gerne berufen sich radikale Positionen zum Beispiel auf den fünften Vers der neunten Sure: "Sind aber die heiligen Monate verflossen, so erschlaget die Frevler, wo ihr sie findet, und packet sie und belagert sie und lauert ihnen in jedem Hinterhalt auf."

Dass es sich gerade bei solchen Stellen um zeitlich begrenzte konkrete Anweisungen handelt, ordnet Islamwissenschaftler Mathias Rohe ein: "Diese Stelle wird gerne so gedeutet, dass man alle Nichtmuslime töten müsse. Das ist evident falsch. Die Interpretationen gehen nämlich dahin, dass es sich bei den hier angesprochenen Heiden um eine Gruppe von damals heidnischen Mekkaner handelt, die 'heuchelten', um zum Islam überzutreten und dann bei der nächstbesten Gelegenheit den Muslimen in den Rücken fielen. Diese müsse man töten, das ist der Offenbarungskontext. Aber: Die hier angesprochenen Menschen sind alle längst tot, die Sache hat sich erledigt, auch wenn die Stelle noch im Koran steht."

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Extremisten legen den Koran anders aus als der gemäßigte Mainstream

Bei der Koranauslegung besteht sowieso ein Unterschied zwischen gemäßigtem Mainstream und Extremisten: Eine Untersuchung des Tony Blair Institute kam 2017 zu dem Schluss, dass nur 8 Prozent der 50 Koransuren, die von Extremisten am meisten zitiert werden, auch in Texten des Mehrheitsislam vorkämen. Und nur 7 Prozent der vom Mehrheitsislam zitierten Verse lassen eine Auslegung Richtung Gewalt zu. Bei Extremisten sind es 86 Prozent. Zudem zitieren extremistische Personen den Koran zwar häufiger, als das Mainstream-Texte tun, dafür sind sie bei der Auswahl aber auch deutlich selektiver und suchen sich nach dem "Rosinenpicken"-Prinzip nur das raus, was genau für ihre Zwecke passt – ohne den jeweiligen Kontext zu berücksichtigen.

Nicht nur der Koran enthält frauenfeindliche Passagen

Apropos Kontext: Kaum ein Thema entzündet Diskussionen so schnell wie die Rolle der Frau im Islam. Ordnen wir also einmal ein. Den Start macht ein Blick in den Koran: Männer dürfen mehrere Frauen heiraten, Frauen aber nicht mehrere Männer. Frauen erben auch nur die Hälfte des Vermögens. Immerhin, dass Frauen überhaupt erben, ist eine Neuheit des Islam, wie Islamwissenschaftler Mathias Rohe einordnet: "In vorislamischer Zeit waren Witwen Teil des Nachlasses, eine Witwe wurde also quasi 'vererbt', und dann einem anderen männlichen Verwandten zugewiesen. Der Islam verschafft ihr erstmals überhaupt ein Erbrecht, das war ein Quantensprung." Tatsächlich gibt es auch Suren, die als Beweis für die Überlegenheit von Männern ausgelegt werden können: Sure 4 spricht zum Beispiel davon, dass die Männer "über den Frauen stehen". Sie erlaubt den Männern zudem, "widerspenstige Frauen" zu ermahnen, sie im Ehebett zu meiden und zu schlagen.

Was also stimmt: So manche Textstelle des Korans vermittelt ein Weltbild, das nicht zu einer aufgeklärten westlichen Auffassung passt. Allerdings: Auch in der Bibel findet man teils veraltete Frauenbilder. So spricht der Apostel Paulus zum Beispiel davon, dass Frauen in der Gemeinde zu schweigen hätten, "denn es ist ihnen nicht erlaubt zu reden, sondern sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz sagt." Und natürlich gehen die meisten heutzutage davon aus, dass diese Aussage – wenn überhaupt – auf die damalige Zeit zutrifft und so heute nicht mehr auszulegen ist.

Ebenso würden die meisten der Ansicht zustimmen, dass ein Land wie Deutschland, das christlich geprägt ist, für sich in Anspruch nehmen kann, Frauenrechte nicht nur gesetzlich einzuführen, sondern sie auch zu achten und gegen die Unterdrückung von Frauen vorzugehen – allen biblischen Aussagen zum Trotz. Man sollte also nicht von einer Textstelle in einer heiligen Schrift aus zwingend den Schluss ziehen, dass von dieser Religion geprägte Personen oder Gesellschaften frauenverachtend handeln.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch "Anleitung zum Widerspruch: Klare Antworten auf populistische Parolen, Vorurteile und Verschwörungstheorien" von Franziska von Kempis. Es ist am 30. September 2019 im Mosaik-Verlag erschienen.

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