Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Danke, Fielmann! Wie der Brillenpapst meine Pubertät rettete
Günther Fielmann ist tot. Der Brillenpapst hat nicht nur ein weltweites Optiker-Imperium aufgebaut und vielen tausend Menschen Arbeit gegeben. Er hat auch unseren Autor gerettet.
"Der Junge sieht schlecht". 1980 war das, und dieser Satz meiner Grundschullehrerin war für mich der blanke Horror. Aber es half kein Heulen, Schimpfen und Betteln. Ich sah tatsächlich fast nichts – weder das ABC noch das Einmaleins. Die Tafel lag so weit außerhalb meines Sichtfeldes, dass mir nur das Kratzen der Kreide die Richtung signalisierte, in die ich gucken musste. Was auf der Tafel stand? Keine Ahnung.
Aber Frau Heitz-Riemey, meine Lehrerin in diesen kurzsichtigen Zeiten, sorgte dafür, dass meine schulische Laufbahn nicht gefährdet und Abhilfe geschaffen wurde. Der Junge bekam eine Brille. Die brutalstmögliche: ein Kassengestell. Ovale Form, metallener Rand – der Alptraum jedes schwachsichtigen Krümels.
Von einem Tag auf den anderen änderte sich mein Leben. Gut, ich konnte jetzt lesen, was da vorne an der Tafel geschrieben stand. Der Preis aber war, dass ich jetzt dieses blecherne Ungetüm tragen musste. Ein "Nasenfahrrad" für "Vierauge". Eine "Gesichtsbrezel" für die "Brillenschlange". Grundschüler können grausam sein. Und das lag nicht nur daran, dass man damals als Kurzsichtiger noch im Verdacht stand, ein Bücherwurm und Streber zu sein. Tatsächlich hieß es damals, Lesen schade den Augen. Man war also auch noch selber schuld, dass man doof aussah.
Dabei war daran doch vor allem das Kassenmodell schuld. Bis Anfang der 80er-Jahre gab es in Deutschland genau sechs (sechs!) Brillenmodelle für Erwachsene und zwei (ZWEI!!!) für Kinder, die die Krankenkasse voll bezahlte. Entsprechend spartanisch war das Design. Wir verhöhnten "Brillenschlangen" hatten also auch noch alle dieselbe "Gesichtsverglasung" zum Nulltarif. Und der war wichtig. "Der Junge wächst ja", und jedes Jahr eine teure neue Brille? Das war im sparsamen Baden-Württemberg ein Ding der finanziellen Unmöglichkeit. "Sieht doch prima aus", lobten unsere Väter das Einheitsgestell, solange es nur ihren Geldbeutel schonte.
Das sahen wir Kinder reichlich anders. Wir hassten diese Brillen. Und was sie aus uns machten. Bis über die Konfirmation hinaus trug ich solche Blech-Glas-Ungetüme, und ich fühle bis heute, wie die aufziehende Pubertät und mein ausgewachsener Brillenkomplex eine unheilige Allianz eingingen. Es ist nicht leicht, einigermaßen cool erwachsen zu werden, wenn du aussiehst wie Adalbert aus dem Buch "Der kleine Nick".
Kurz: Mein Blick war zwar inzwischen klar, aber die Zeiten waren trübe. Günther Fielmann hat mich damals gerettet. 1981 hatte der Brillenunternehmer mit einer ostfriesischen Unterorganisation der AOK einen Sondervertrag geschlossen und 90 Brillenmodelle aus Metall und Kunststoff in 640 (!) Varianten auf den Markt gespült, zu denen Mama und Papa "nicht einen Pfennig dazu bezahlten", so der geniale Werbeclaim. Für uns kassenmodellentstellte Kinder öffnete sich eine neue Welt: Wir konnten wählen! Aussuchen!
Wir konnten nun hässliche Brillen ablehnen und schönere verlangen, ohne dass unsere Eltern uns mit dem finanziellen Totschlagargument zum Schweigen brachten. Meine Brille wurde vom Fluch zu etwas, das zu mir passte, zu mir gehörte. Ich trug zwar seit Günther Fielmanns epochaler Idee nicht nur Brillen, auf die ich heute stolz bin. Aber wenn ich eine Nickelbrille trug, die John Lennon verspottet hätte, dann hatte ich sie mir immerhin selbst ausgesucht. Wenn ich in den 90ern ein Mädchen ansprach und mir dabei ein tropfenförmiges randloses "Etwas" auf der Nase saß, dann war es "meins", und es schmälerte nicht mein postpubertäres Selbstbewusstsein. DAS tat dann später das Mädchen.
Günther Fielmann hat meinen Blick auf mein Gesicht verändert. So sehr ich das Kassengestell in der Grundschule hasste, so sehr irritiert es mich heute, über 40 Jahre später, mich ohne Brille zu sehen. Sie ist ein Teil von meinem Gesicht, von mir geworden. Morgens greife ich als Erstes nach Ihr, abends als Letztes. Keine Brille aufzuhaben, ist für mich ein bisschen, als ginge ich ohne Hose vor die Tür. Meine Brille steht mir. Finde ich.
Derzeit ist es keine von Fielmann. Vielleicht wird die nächste wieder eine. Quasi als Dankeschön. Auch dafür, dass ich meinem Sohn etwas weitergeben konnte: Es ist nicht so schlimm, eine Brille zu tragen. Er hat geheult, als seine Lehrerin uns vor drei Jahren sagte: "Der Junge sieht schlecht." Seine erste war eckig und bunt, blau und orange. Er fand sie super. Allerdings haben wir ein bisschen Geld zugezahlt.
- Eigene Recherchen und Erinnerungen