Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Glaubt man es? Die Alternative ist grausam
Nach monatelangen Verhandlungen steht eine Waffenpause bevor, aus der Frieden in Gaza erwachsen könnte. Kommt es so weit oder wird das Pflänzchen Hoffnung schnell wieder zertreten?
Nun kommt, wenn alles gut geht, ein Waffenstillstand in Gaza zustande, den es auch schon im Mai hätte geben können. Wie viele Frauen, Kinder und Männer sind seither dort gestorben? Wie viele Geiseln könnten noch leben, hätten sich die Hamas und Israel damals geeinigt?
Dennoch ist es ein Segen, dass es jetzt endlich so weit ist – so weit zu sein scheint. Man sollte im Nahen Osten keinerlei Illusion erliegen, nicht darauf bauen, dass es so kommen wird wie verkündet. Nicht einmal wenige Stunden vor der Stunde X, wenn die Waffen ruhen sollen, ist garantiert, dass ein Abkommen auch verwirklicht wird. Die Erfahrung lehrt Vorsicht. Im Nahen Osten ist immer alles möglich und von allem das Gegenteil.
- Kommentar zum Geiseldeal: Sieh her, Deutschland, es gibt Hoffnung!
Alles steht unter Vorbehalt, so ist das nun einmal. In den nächsten Tagen sollen zunächst 33 Geiseln freigelassen werden. 17 Monate waren sie dann irgendwo in einem Tunnel oder wo auch immer gefangen. Was haben sie durchgemacht? Wie werden sie mit dem Erlittenen fertig? Ist ihr Leben zerstört oder verfügen sie über so viel Resilienz, die ihnen eine Rückkehr in eine Art Normalität erlaubt? Und wie viele von ihnen kommen im Sarg zurück?
Jede Geisel, ob lebend oder tot, ist eine Anklage gegen die Regierung Netanjahu, die ihre Befreiung für zweitrangig hielt. Von den schrecklichen Fehleinschätzungen einmal zu schweigen, die den 7. Oktober erst ermöglichten.
Nichts ist mehr so wie vor dem Massaker. Israel zeigte sich verwundbar. Der Staat konnte sein Versprechen, den Menschen Schutz zu geben, nicht halten. "Trauer und Traumata, Ängste und Rachegelüste prägen das gesellschaftliche Klima," schreibt die "Süddeutsche Zeitung" – und weiter: "Das spiegelt sich in der rücksichtslosen Kriegsführung."
Der Gazastreifen gleicht stellenweise einem Friedhof. Schätzungsweise 46.000 Menschen kamen ums Leben, mehr als 100.000 sind verletzt. Wer dort lebt, wurde aus dem Norden in den Süden und dann wieder in den Norden geschickt, um der Bombardierung auszuweichen, der nicht auszuweichen war. Was machen diese existenziellen Erfahrungen mit den Menschen? Wenn es eine Steigerung von Aussichtslosigkeit geben sollte, haben die Zivilisten sie dort wohl erlebt.
Tausende palästinensischer Häftlinge sollen im Austausch mit den Geiseln freikommen. Wie kommen sie zurück? So wie Jihia al-Sinwar, der Kopf des 7. Oktober, der in langer Haft Ivrit, das Neuhebräisch, lernte, um die Juden besser zu verstehen, ihre Stärken, ihre Schwächen? Möglich, dass sich aus den Rückkehrern die nächste Führungsgarde der Hamas herausbildet. Dramatische Folgen sind zu befürchten.
Es braucht einen dauerhaften Frieden
Auch im Nahen Osten ist nichts mehr, wie es vor dem 7. Oktober war. Die israelische Armee und der Geheimdienst haben die Hisbollah im Libanon entscheidend geschwächt. Auch der Erzfeind Iran wusste nicht, wie ihm geschah. In der Folge überschlugen sich die Ereignisse in Syrien. Militärisch ist Israel stärker denn je, eine Ordnungsmacht aus eigenem Recht, das aufs Militärische vertraut und politische Ziele erst noch formulieren muss, um es milde zu sagen.
Zur Person
Gerhard Spörl interessiert sich seit jeher für weltpolitische Ereignisse und Veränderungen, die natürlich auch Deutschlands Rolle im internationalen Gefüge berühren. Er arbeitete in leitenden Positionen in der "Zeit" und im "Spiegel", war zwischendurch Korrespondent in den USA und schreibt heute Bücher, am liebsten über historische Themen.
Friede in Gaza, dauerhafter Friede sogar, müsste eigentlich die Konsequenz aus den politischen und militärischen Veränderungen in der Region sein. Dann könnte der Wiederaufbau erfolgen. Neun von zehn Schulen sind wohl zerstört, etwa sieben von zehn Häusern liegen in Trümmern, die gesamte Infrastruktur ist nur noch ein Torso. Die israelische Armee sorgte für maximale Zerstörung in kurzer Zeit.
Die Hamas ist geschwächt, aber für immer und komplett zu eliminieren, so lautete Netanjahus pompöses Kriegsziel, lässt sie sich nicht. Militärisch dürfte sie weiterleben, aber Gaza nicht mehr so allumfassend beherrschen wie zuvor. Sie wäre gut beraten, wenn sie anderen die Macht überließe.
Mit Netanjahu ist das nicht zu machen
Wie es politisch in Gaza weitergehen soll und kann, ist vollkommen unklar. Jede der diskutierten Lösungen scheint unbefriedigend zu sein. Joe Biden empfiehlt auf seinen letzten Metern eine Übergangsregierung mit der Palästinensischen Autonomiebehörde im Mittelpunkt. Diese aber gilt als korrupt und inkompetent. Israel könnte sich vermutlich mit einer Friedenstruppe aus gemäßigten arabischen Staaten wie Marokko oder Ägypten anfreunden. Doch keinen dieser Staaten drängt es danach, weil sie befürchten, sie würden als Hilfssheriffs der Israelis abgestempelt.
Die zentrale Instanz ist Saudi-Arabien, umso mehr, als der Iran mit sich selbst beschäftigt ist. Vor dem 7. Oktober 2023 waren die Gespräche mit Israel über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen weit gediehen. Damals wie heute macht das Königreich allerdings die Zweistaatenlösung zur Bedingung für neue Verhältnisse.
Mit Benjamin Netanjahu ist das nicht zu machen. Seine Karriere beruht auf dem großen Nein zu jedem Ausgleich mit den Palästinensern. Daran wird sich nichts ändern, solange er Premierminister ist. Aber wie lange bleibt er es?
Sechs lange Wochen stehen bevor
Paradox ist ja, dass die Aussicht auf Frieden in Gaza für ihn ein Problem darstellt. Denn es ist gut möglich, dass die beiden fundamentalistischen Minister Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich ihre Drohung wahr machen und die Regierung wegen des Abkommens sprengen. Und dann?
Oder es finden nach dem Ende des Krieges Neuwahlen statt, bei denen Netanjahu für das systematische Versagen am 7. Oktober bestraft wird – und daraufhin unter Anklage wegen Korruption gestellt wird.
Es gibt Gründe, das Abkommen zu sabotieren – für die Hamas, die im Frieden verliert, für Netanjahu, der Premier im Krieg bleibt.
Sechs lange Wochen stehen bevor, in denen vieles passieren kann. Das Pflänzchen Hoffnung ist aber immerhin gepflanzt. Vielleicht finden sich Gärtner in Washington, Riad, Kairo und womöglich sogar in Jerusalem und Gaza, die es hegen und pflegen.
Glaubt man es? Muss man, denn die Alternative ist grausam.
- Eigene Beobachtungen