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HomePolitikChristoph Schwennicke: Einspruch!

Europa: Rechtsruck – Populisten gewinnen die Oberhand


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Politische Zeitenwende
Das Pendel schwingt zurück

MeinungEine Kolumne von Christoph Schwennicke

04.07.2024Lesedauer: 4 Min.
Viktor Orbán und Giorgia Meloni: Baut die Politikerin Italien nach dem Vorbild von Ungarn um? (Archivfoto)Vergrößern des Bildes
Viktor Orbán und Giorgia Meloni: Baut die Politikerin Italien nach dem Vorbild Ungarns um? (Archivfoto) (Quelle: Cosimo Martemucci/imago-images-bilder)
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Die politische Landkarte Europas färbt sich neu ein. Ultrakonservative bis rechtspopulistische Regierungen übernehmen das Ruder. Dafür gibt es einen Grund. Und vorläufig kein Gegenmittel.

Die Lage in Europa? Schwierig. Der Kontinent und sein politisches Bündnis befinden sich in einem epochalen, nie vorher gesehenen Umbruch. Mit dem 1. Juli hat Ungarn die Ratspräsidentschaft übernommen, das Land, das vor 35 Jahren den ersten Schnitt in den Eisernen Vorhang des Ostblocks getan hat und jetzt am liebsten einen stählernen Zaun um Europa bauen würde. Die einstmals urliberalen Niederlande haben nach dem Wahlsieg von Geert Wilders eine stramm rechtspopulistische Regierung bekommen. In Italien regiert Giorgia Meloni hart rechtskonservativ. In Schweden, einst das sozialdemokratische Musterland, hat eine stark konservative Koalition das Sagen.

Frankreich fällt absehbar dem Rassemblement National in den Schoß. Erst bei den Parlamentswahlen diesen Sonntag, dann in drei Jahren wahrscheinlich bei der Präsidentschaftswahl. In Österreich, das geht wegen des ausschließlichen Blicks auf die Landtagswahlen hierzulande etwas unter, könnte die FPÖ am 29. September als klarer Sieger aus der Wahl hervorgehen. Spanien ist von ganz links nach ganz rechts gegangen. Die AfD, obgleich skandalgebeutelt, hält sich hierzulande weiter oberhalb der 15 Prozent und greift in den ostdeutschen Bundesländern nach der Macht.

Christoph Schwennicke
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Christoph Schwennicke ist Politikchef und Mitglied der Chefredaktion von t-online. Seit fast 30 Jahren begleitet, beobachtet und analysiert er das politische Geschehen in Berlin, zuvor in Bonn. Für die "Süddeutsche Zeitung", den "Spiegel" und das Politmagazin "Cicero", dessen Chefredakteur und Verleger er über viele Jahre war. Bei t-online schreibt er jeden Donnerstag seine Kolumne "Einspruch!".

Das politische Pendel schwingt nach zehn Jahren liberaler bis hilflos-schicksalsergebener Migrationspolitik brutal zurück – und über jedes Maß der Mitte hinaus. Es mag weitere große Themen von dystopischem Ausmaß geben: die Klimakatastrophe, die mit ihren wechselweise extremen Dürren und sintflutartigen Niederschlägen den Kontinent in nie gesehener Form heimsucht. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und die Sorge, dass sich Putins Aggression auch gegen Kerneuropa wenden könnte. Aber nichts triggert die Bevölkerungen der EU-Länder derart wie der Migrationsdruck, dem der Kontinent ausgesetzt ist. Selbst in Ländern, in denen wie im Falle Polens und absehbar Großbritanniens Regierungswechsel Richtung gemäßigt links stattgefunden haben oder stattfinden werden, bestimmt dieses Thema die politische Agenda. Und nur zur Erinnerung: Auch der Brexit geht maßgeblich auf die Migration zurück.

Bald zehn Jahre ist es her, dass am Münchner Hauptbahnhof die ersten Züge mit Menschen ankamen, die ihre Heimat verlassen haben, weil dort Krieg herrschte, oder sie auf der Suche nach einem besseren Leben in Deutschland und anderen wohlhabenden europäischen Ländern waren. Damals wurden die Ankommenden mit Teddybären willkommen geheißen und begrüßt. Zugrunde lag ein psychologisches Muster, das ich bis heute nie besser beschrieben gelesen habe als bei Oscar Wilde: "Die Gefühle des Menschen bäumen sich schneller auf als sein Verstand, und (…) Mitgefühl und Liebe zu den Leidenden ist bequemer als Liebe zum Denken." Notiert der große Literat in seinem Aufsatz über den "Sozialismus und die Seele des Menschen" von 1891.

Blind bis ins Kanzleramt

Heißt: So sympathisch-menschlich und weltoffen diese Geste und die dahinterstehende Haltung waren: Die Willkommenskultur übersah vorsätzlich die Dimension der Probleme, die dieser ungeregelte und irreguläre Zuzug mit sich bringen würde. Diese Blindheit erstreckte sich bis ins Kanzleramt. "Wir schaffen das" und "Das ist nicht mein Land", wenn man sich dafür entschuldigen müsse, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Schließlich: "Es liegt nicht in unserer Macht, wie viele noch zu uns kommen." Drei fatale Sätze der damals regierenden deutschen Bundeskanzlerin.

Die Folgen dieser Blauäugigkeit sind fatal, politisch wie gesellschaftlich. Sie sind jetzt zu besichtigen. Integration ist in dieser Dimension überhaupt nicht mehr zu leisten, abgesehen davon, dass, wie der frühere Ungarn-Flüchtling und Musiker Leslie Mandoki unlängst in einem t-online-Podcast postulierte, Integration zuerst eine Verpflichtung der Ankommenden sein müsse, die eine Bereitschaft voraussetze.

Nie zuvor Gesehenes ist plötzlich schlimmer Alltag

Es sind bestimmt ganz viele Menschen gekommen, die längst weitgehend unbemerkt einer Arbeit nachgehen und die vielen Lücken stopfen, die sich in unserem Arbeitsmarkt aufgetan haben. Aber das Bild prägen andere. Und fürchterliche Vorfälle, die es so noch nie gab. Vom Breitscheidplatz in Berlin über die Kölner Domplatte, das bestialische Axt-Attentat in einem Zug bei Würzburg, einen Arztmord in Offenburg bis zu den jüngsten Ereignissen. Mannheim, Bad Oeynhausen, Chemnitz, Lauf an der Pegnitz. Brutalität und Verachtung von Menschenleben, wie sie unsere Zivilisation nur in absoluten Ausnahmefällen kannte, sind plötzlich an der Tagesordnung. Die Ereignisse lösen einander so nahtlos ab, dass man kaum noch nachkommt mit der Zuordnung: Wo war noch mal was? Wo der totgetretene Schüler, wo der tödlich ins Gehirn gestochene Polizist?

Dazu Sozialsysteme, die die zusätzliche Last nicht mehr puffern und folgenlos tragen können. Und aus all dem resultiert eine gekippte gesellschaftliche Stimmung, die damit einhergeht, dass immer mehr Wählerinnen und Wähler alle gesunde Zurückhaltung fahren lassen und extrem wählen. Weil sie das Gefühl haben, die gemäßigten und maßvollen Parteien bekommen die Sache nicht in den Griff. Deshalb schwingt das Pendel über die Mitte derzeit einfach hinweg. Nicht nur in Thüringen und Sachsen. Sondern in ganz Europa.

Das Pendel muss sich wieder einschwingen – bestenfalls

Dagegen ist im Moment wenig zu machen. Was helfen würde, wäre ein wirklich entschlossenes Eindämmen weiteren ungeregelten Zuzugs. Die Vorschläge dazu sind alle auf dem Tisch. Und entschlossenere Rückführung jener, die kein Recht haben zu bleiben. Und nicht nur markige Sprüche darüber auf den Titeln namhafter Nachrichtenmagazine. Aber selbst das würde allenfalls und bestenfalls dazu führen, dass sich das Pendel allmählich wieder dort einschwingt, wo es hingehört: in der Mitte der Gesellschaft und jener Parteien, die diese Mitte verantwortungsbewusst vertreten. Das wird mindestens so lange dauern, wie vorher alles schieflief.

Verwendete Quellen
  • Eigene Überlegungen, Oscar Wilde
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