Militärkonvoi gesichtet Erste russische Truppen haben wohl Grenze zur Ostukraine überquert
Wladimir Putin hat Luhansk und Donezk als unabhängige Staaten anerkannt – und den Befehl gegeben, eine "Friedenstruppe" zu entsenden. Augenzeugen berichten nun von ersten Panzerkolonnen.
Dramatische Eskalation im Ukraine-Russland-Konflikt: Berichten zufolge sollen russische Truppen bereits kurz vor Mitternacht die Grenze zur Ostukraine überquert haben. Die Nachrichtenagentur Interfax berichtete von "einer größeren Zahl an gepanzerten Fahrzeugen" auf dem Gebiet der selbsterklärten "Volksrepublik" Donezk.
Der US-Nachrichtensender CNN hatte zuvor gemeldet, die Truppen könnten schon heute oder morgen in die Region einrücken. Die USA wollten einen Einmarsch noch nicht bestätigen. Der UN-Sicherheitsrat war noch in der Nacht auf Dienstag zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengekommen.
Der russische Präsident Wladimir Putin hatte am Montag die Entsendung von Truppen in den umkämpften Osten des Landes angeordnet. Die Einheiten sollten in den kurz zuvor von ihm als unabhängige Staaten anerkannten "Volksrepubliken Luhansk und Donezk" für "Frieden" sorgen, wie aus einem Dekret hervorgeht.
Videos in sozialen Netzwerken zeigen Truppen-Kolonnen
Interfax meldete unter Berufung auf Augenzeugen, dass sich zwei Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge in Richtung Norden und Westen der Republik bewegten. Videos auf Twitter, darunter von dem Moskau-Korrespondenten des französischen "Figaro", sollen den Truppenkonvoi zeigen.
Auch die Nachrichtenagentur Reuters meldete die Bewegungen mehrerer militärischen Mannschaftswagen und berief sich bei den Angaben auf Augenzeugen. (Die Aufnahmen sehen Sie oben im Video oder hier.) Der katarische Sender Al Jazeera berichtete, "exklusive" Bilder von russischen Militärkonvois in der Ostukraine zu haben.
Selenskyj: "Wir sind dem friedlichen und diplomatischen Weg treu"
Der vor Jahren vereinbarte Waffenstillstand in Donezk und Luhansk hält angesichts Hunderter Verstöße nicht mehr, es bekämpfen sich dort ukrainische Regierungstruppen und Aufständische. Russland hat nach westlichen Angaben etwa 150.000 Soldaten an der Grenze zum Nachbarland zusammengezogen. Moskau hatte seit Wochen Befürchtungen des Westens widersprochen, dass ein Einmarsch bevorstehen könnte.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj reagierte auf die russische Anerkennung der "Volksrepubliken" zurückhaltend. "Wir sind dem friedlichen und diplomatischen Weg treu und werden nur auf diesem gehen", sagte er. Auf Provokationen werde Kiew nicht reagieren – aber auch kein Territorium aufgeben. "Wir erwarten von unseren Partnern klare und wirkungsvolle Schritte der Unterstützung."
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Russland kann dank der neuen Freundschaftsverträge mit den selbst ernannten "Volksrepubliken" eigene Militärstützpunkte in der Ostukraine errichten und betreiben. Die Verträge wurden in der Nacht zum Dienstag auf der Internetseite der russischen Staatsduma in Moskau veröffentlicht. Darin ist zudem von einem gemeinsamen Grenzschutz die Rede. Die Vereinbarung solle zunächst über zehn Jahre Bestand haben, mit der Möglichkeit einer automatischen Verlängerung.
USA und EU kündigen Sanktionen an
Die jüngsten Entscheidungen des Kremls dürften den Ukraine-Konflikt weiter stark befeuern. Die EU wird mit Sanktionen darauf reagieren, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel am Montagabend erklärten. Ein offizieller Beschluss dazu soll bereits an diesem Dienstag auf den Weg gebracht werden. Die Strafmaßnahmen sollten diejenigen treffen, die daran beteiligt sind, hieß es. Von der Leyen und Michel verurteilten die Entscheidung als "eklatanten Verstoß gegen das Völkerrecht sowie die territoriale Integrität der Ukraine".
Auch die US-Regierung will noch an diesem Dienstag neue Maßnahmen gegen Russland ankündigen. "Wir werden morgen weitere Maßnahmen ergreifen, um Russland für diese eindeutige Verletzung des Völkerrechts und der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine (...) zur Rechenschaft zu ziehen", sagte ein hoher Beamter des Weißen Hauses. Es werde sich wahrscheinlich um Sanktionen handeln. US-Präsident Joe Biden habe weiterhin nicht die Absicht, amerikanische Streitkräfte in die Ukraine zu schicken. Biden unterzeichnete am Montagabend wie angekündigt eine Exekutivanordnung mit Sanktionen. Lesen Sie hier mehr dazu.
Putin beschuldigt Westen
Putin sprach in einer Fernsehansprache am Montag trotz fehlender Beweise von einem Massenverbrechen am russischstämmigen Volk in der Ostukraine. "Die sogenannte zivilisierte Welt zieht es vor, den von Kiew begangenen Genozid im Donbass zu ignorieren", sagte Putin. Vier Millionen Menschen seien betroffen. Dafür gibt es allerdings keine Beweise. Die USA hatten Russland zuletzt beschuldigt, den Vorwurf des Völkermordes als Vorwand für eine mögliche Invasion nutzen zu wollen. Hier lesen Sie mehr zu Putins Rede.
Die prorussischen Separatistenführer in den beiden Regionen hatten Putin zuvor um Beistand im Kampf gegen die ukrainischen Regierungstruppen gebeten. Nach UN-Schätzungen gibt es in dem seit acht Jahren währenden Konflikt bisher mehr als 14.000 Tote.
Deutschland verurteilt russischen Schritt
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock verurteilte die Anerkennung der Separatisten-Regionen durch Russland als "eklatanten Bruch des Völkerrechts" und "schweren Schlag für alle diplomatischen Bemühungen zur friedlichen Beilegung und politischen Lösung des aktuellen Konflikts".
Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Präsident Biden und der französische Präsident Emmanuel Macron telefonierten am Montagabend und waren sich einig, dass dieser Schritt Russlands nicht unbeantwortet bleiben werde. Alle drei erklärten sich einem Sprecher zufolge solidarisch mit der Ukraine. "Die Partner waren sich einig, nicht nachzulassen in ihrem Einsatz für die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine." In der Nacht wurde eine Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats unter anderem von den USA und Großbritannien beantragt.
Litauen: "Wird uns für die nachfolgenden Generationen definieren"
Litauens Staatspräsident Gitanas Nausėda erklärte: "Was wir heute Abend erlebt haben, mag für die demokratische Welt surreal erscheinen. Aber die Art und Weise, wie wir darauf reagieren, wird uns für die nachfolgenden Generationen definieren". Das EU- und Nato-Mitglied Litauen fühlt sich ebenfalls von Russland bedroht.
Der Kreml hatte tags zuvor Hoffnungen auf ein baldiges Treffen Putins mit Biden gedämpft. Die Außenminister Russlands und der USA wollen sich aber am Donnerstag in Genf treffen.
Russland sei sich im Klaren darüber, dass der Schritt angesichts der vom Westen angedrohten Sanktionen ernste Folgen haben werde, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Sicherheitsrats, Dmitri Medwedew. Es gebe angesichts der Lage aber keine andere Möglichkeit, als die Gebiete anzuerkennen. Der Druck auf Russland werde beispiellos sein. Die Hoffnung sei, dass sich der Konflikt danach abkühle.
- Berichterstattung bei CNN
- Eigene Recherchen/Twitter
- Nachrichtenagenturen Reuters und dpa