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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unkontrollierte Corona-Demos Der Sheriff, der sie laufen lässt
Ohne Maske und Abstand protestieren jeden Montag Hunderte in Sachsen gegen die Corona-Politik. Innenminister Roland Wöller steht deswegen nun scharf in der Kritik – nicht zum ersten Mal.
Die Versammlungsfreiheit sei höher zu bewerten als Auflagen, Verbote und Infektionsschutz. Er habe Verständnis für die Proteste gegen die Corona-Auflagen. Demonstrationen von "Querdenkern" ohne Maske und Abstand gewähren zu lassen, diene der Deeskalation. Der sächsische Innenminister Roland Wöller (CDU), der sich einst gern als "schwarzer Sheriff" positioniert hatte, hat sich in der Corona-Pandemie eher als lax im Umgang mit den von seiner Landesregierung beschlossenen Verordnungen gezeigt. Das Ergebnis war am Montag erneut in mehreren sächsischen Städten zu sehen.
In Freiberg, wohin mehrere rechtsextreme Organisationen mobilisiert hatten, marschierten Hunderte Gegner der Corona-Maßnahmen durch die Straßen – mehr oder minder ungehindert von der Polizei. Laut und wütend riefen sie ihre Verse: "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit raubt", skandierten sie, oder: "Kretschmer muss weg!" Hunderte ohne Masken, mutmaßlich größtenteils ungeimpft, demonstrierten unangemeldet mitten in Deutschlands Corona-Hotspot Nummer eins.
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Denn eigentlich befindet sich Sachsen im Lockdown. Der Freistaat verzeichnet bundesweit die höchsten Inzidenz-Werte, die Intensivstationen in vielen Landkreisen sind bereits überfüllt. Es gelten strenge Kontaktbeschränkungen, Bundesligisten spielen wieder vor leeren Stadien, die Gastronomie muss um 20 Uhr schließen. In besonders stark betroffenen Regionen gilt bei Nacht eine Ausgangssperre für Ungeimpfte. Die Versammlungsfreiheit ist eingeschränkt: Eigentlich sind nur ortsfeste Versammlungen mit maximal zehn Teilnehmern erlaubt.
Jede Woche kommt es aber dennoch zu Aufzügen von sogenannten Querdenkern, Rechtsextremen und Impfskeptikern, die diese Teilnehmerzahl bei weitem überschreiten. Wie kann das sein? Warum ist das öffentliche Leben größtenteils heruntergefahren – bei Aufzügen von "Querdenkern" aber schreiten Polizei und Behörden nicht oder kaum ein? Nicht nur die Opposition sieht im Innenminister den Schlüssel zur sächsischen Malaise. Er setzt auf Deeskalation und überlässt der Polizei die Abwägung der Maßnahmen. Zum Unmut vieler Kritiker.
Linke kritisiert "Arbeitsverweigerung"
"Saß Wöller am Kabinettstisch, als seine Landesregierung die Notverordnung beschlossen hat? Er scheint sie nämlich nicht mitzutragen", sagte die Linken-Landtagsabgeordnete Kerstin Köditz t-online. Sie ist seit Langem eine Kritikerin seines Umgangs mit der Pandemie. Mit ihrer Fassungslosigkeit hält sie nicht hinterm Berg. "Was Wöller macht, ist Arbeitsverweigerung, das Ergebnis ist Kontrollverlust. Wöller ist die Bremse der Pandemiebekämpfung."
Der Innenminister sehe die Notverordnung offenbar als freiwillig an: "Wer sich daran hält, hat scharfe Auflagen – wer sich nicht daran hält, darf machen was er will", sagte Köditz. Anders als von Wöller behauptet, gebe es "mehr polizeiliche Möglichkeiten als brutale Gewalt oder Untätigkeit". Sie fordert beispielsweise präventive Gefährderansprachen für Akteure und Organisatoren der Versammlungen. Die seien schließlich bekannt.
Tatsächlich war im Vorfeld der Demonstration in Freiberg offenkundig, wer die Versammlung befeuerte. Auch die Polizei räumte auf Anfrage von t-online ein, dass die vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestufte Partei "Freie Sachsen" über soziale Medien für die Teilnahme warb, ebenso wie das als rechtsextremer Verdachtsfall geltende "Compact-Magazin" des ehemaligen Linksextremisten Jürgen Elsässer.
Rechte und gewalttätige Rädelsführer
Zwar hätten die Einsatzkräfte aufgrund der städtebaulichen Bedingungen und des lang gezogenen Demonstrationszuges keine Möglichkeit gehabt, "die Teilnehmer des Aufzugs an einem Punkt zu umschließen und für Identitätsfeststellungen festzusetzen". Den mutmaßlichen Rädelsführern vor Ort sei man aber habhaft geworden: Es handele sich um 24 überwiegend junge Erwachsene, "die durchaus als gewaltgeneigt und rechtsgerichtet einzuordnen sind", sagte ein Sprecher der Polizeidirektion Chemnitz t-online.
Alles richtig gemacht also? Eher nicht. Hinsichtlich des gleichzeitig stattfindenden Aufzugs von Corona-Gegnern in Chemnitz räumte der Sprecher Versäumnisse seiner Behörde ein: "Gestern konnten wir in Chemnitz unser Einsatzziel, nämlich die Rädelsführer des Aufzugs aus ihrer Anonymität zu holen, nicht erreichen, da wir darauf bedacht waren, gewalttätige Auseinandersetzungen zu verhindern." Während der dortige 300-Personen-Umzug durch die Straßen wanderte, hatte sich die Polizei den 27 Gegendemonstranten gewidmet. Von der Darstellung, diese hätten versucht, eine Polizeikette zu durchbrechen, rückte der Sprecher allerdings auf Nachfrage ab.
Ist Wöller für den Verlauf des Demonstrationsgeschehens also gar nicht ausschlaggebend? Die Linie des Innenministeriums nur eine Randerscheinung in der polizeilichen Taktik?
Wohl kaum.
Wöller wurde 2017 von Michael Kretschmer als Innenminister berufen. Seither steht er immer wieder scharf in der Kritik, besonders wenn es um die Einsatztaktik der Polizei bei Demonstrationen geht.
2018 sammelten sich nach einem tödlichen Messerangriff Tausende Rechtsextreme in Chemnitz. Die personell weit unterlegene Polizei konnte die Lage nicht unter Kontrolle bringen. Es folgten Ausschreitungen und Übergriffe auf Migranten, Gegendemonstranten und Journalisten sowie ein jüdisches Restaurant. Der Innenminister, so die Kritik damals, habe die Lage vollkommen unterschätzt.
Ganz ähnlich lief es im November 2020: Hier waren zu einer "Querdenken"-Demonstration Tausende Maßnahmen-Gegner an der Seite von Neonazis und Hooligans aufgelaufen. Die Masken- und Abstandspflicht wurden ignoriert, Journalisten und Polizisten angegriffen. Die Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) kritisierte: Solche Szenen dürften sich nicht wiederholen, die Polizei dürfe "marodierenden Gewalttätern" nicht das Feld überlassen. Die sächsischen Grünen forderten Wöllers Rücktritt. Der wies Kritik an der Einsatztaktik von sich – und blieb.
Polizeigewerkschaft: "Es ist ein heilloses Durcheinander"
Nun aber ist auch in den eigenen Behörden die Kritik an Wöller groß. Cathleen Martin ist Vorsitzende der "Deutschen Polizeigewerkschaft Sachsen" und seit 30 Jahren Polizistin in Sachsen. Besonders in der Corona-Krise reiht sich aus ihrer Sicht eine Verfehlung des Ministers an die nächste. "Ich habe noch nie eine so chaotische Polizei erlebt wie in den letzten Jahren", sagt sie t-online. "Es macht mir Himmelangst, es ist ein heilloses Durcheinander."
600 sächsische Polizisten sind derzeit mit Corona infiziert, 1.000 weitere sitzen laut Martin in Quarantäne. Wo eigentlich zehn Polizisten ein Revier besetzen, halte nun manchmal nur noch ein Kollege die Stellung. Martin verteidigt auch angesichts dieser Lage, dass Kollegen nicht härter gegen Demonstrationen vorgehen.
Man wisse gerade bei den Protesten gegen die Corona-Politik nicht, wie viele Infizierte dort mitmarschieren. Das Durchgreifen der Polizei führe aber rasch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen, Tumulten und Gebrüll. Ein Handgemenge könne für Beamte "nach hinten losgehen" und auch bei den Demonstrierenden für mehr Infektionen sorgen, sagt Martin. Und weitere Kranke könne sich die Polizei in Sachsen einfach nicht erlauben. "Manche Einheiten laufen schon jetzt nur noch im Notbetrieb."
"Viele Kollegen sind psychisch am Ende"
Die Beamten, die eigentlich die Bevölkerung schützen sollen, wurden von der Landesregierung selbst im Stich gelassen – so sieht es die Vorsitzende der Polizeigewerkschaft. Ein eindeutiger Hinweis darauf laut Martin: Im Juni wurde die Impfkampagne bei der sächsischen Polizei eingestellt. Bedeutet: Gegen Hepatitis und viele andere Krankheiten konnten sich Beamte weiter beim Amtsarzt impfen lassen – nicht aber gegen das grassierende Coronavirus.
Die Mehrbelastung in der Krise werde außerdem nicht gesehen, das Personal nicht entsprechend aufgestockt, sagt die Gewerkschafterin. Nun komme ein enttäuschendes Tarifverhandlungsergebnis für die Beschäftigten der Länder hinzu, das nicht einmal die angekündigte Inflationsrate ausgleiche. Die fehlende Wertschätzung schlage sich hart auf die Motivation der Kollegen nieder: "Viele Kollegen sind psychisch am Ende, die fühlen sich im Stich gelassen."
Wöller müsse dringend endlich seinen Pflichten als Dienstherr nachkommen, fordert Martin, um einen Kollaps der Polizeibehörden noch zu verhindern: "Das kann nur der Minister steuern, das muss im Innenministerium passieren."
Wöller: Unvernunft lässt sich nicht mit polizeilichen Mitteln bekämpfen
Der Minister allerdings sieht wenig Grund zur Kritik an seiner Arbeit. Mit Blick auf die aktuellen Demonstrationen teilte Wöller t-online am Dienstag mit: "Diese Pandemie und die Unvernunft von vielen lassen sich nicht mit polizeilichen Mitteln und schon gar nicht mit Gewalt bekämpfen." Nur mit "Vernunft, Disziplin und gegenseitiger Solidarität" komme man durch diese Krise.
Aus seiner Sicht sei unverständlich, dass einerseits Hubschrauber Patienten, die dauerhaft beatmet werden müssten, aus Sachsen in andere Bundesländer fliegen und andererseits "mehrere hundert Menschen ohne Abstand, Masken und vor allem ohne Gedanken an mögliche Konsequenzen für alle ignorant und egoistisch durch Städte" spazierten und ihre eigenen Interessen über die aller anderen stellten.
Die Proteste seien ein "Brandbeschleuniger" in der Pandemie. Dennoch, dabei bleibt Wöller, sei die Auflösung von "friedlichen Protesten" mit Gewalt dabei nicht das "Mittel der Wahl" – sollten einige dies auch fordern.
Einen Mittelweg, eine Lösung scheint Wöller nicht zu sehen. Andere Bilder als an den vergangenen Montagen sind damit aus Sachsen nicht zu erwarten.
- Anfrage an das sächsische Innenministerium
- Gespräch mit Cathleen Martin, Polizeigewerkschaft
- Anfrage an die Polizeidirektion Chemnitz
- Eigene Recherchen