Nach Einmarsch in Kabul Taliban übernehmen die Macht: "Der Krieg in Afghanistan ist vorbei"
Praktisch kampflos sind die Taliban am Sonntag in Kabul einmarschiert. Aus dem Präsidentenpalast verkünden sie ihren Sieg im Bürgerkrieg. Präsident Ghani ist ins Exil geflüchtet.
In weniger als zwei Wochen haben die Taliban Provinz für Provinz in Afghanistan erobert – nun sind die Islamisten auch in die Hauptstadt Kabul eingerückt. Die Bevölkerung ist in Angst. Und die Bundesregierung leitet eilends eine Evakuierung ein.
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Nach dem Einmarsch der Taliban in die afghanische Hauptstadt Kabul und der Flucht des Präsidenten Aschraf Ghani befasst sich der UN-Sicherheitsrat mit der brisanten Lage in dem Krisenstaat. Auf Antrag Estlands und Norwegens kommt das Gremium an diesem Montagvormittag in New York (10 Uhr Ortszeit) zu einer Sondersitzung zusammen.
UN-Generalsekretär António Guterres zeigte sich tief besorgt und rief die islamistischen Aufständischen sowie alle anderen Konfliktparteien zu "äußerster Zurückhaltung" auf. Die Vereinten Nationen seien weiter entschlossen, zu einer friedlichen Beilegung des Konflikts beizutragen sowie die Menschenrechte aller Afghanen, insbesondere die von Frauen und Mädchen, zu fördern. Überdies gelte es, lebensrettende humanitäre Hilfe und wichtige Unterstützung für Zivilisten in Not zu leisten, sagte er.
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Seit Beginn des Abzugs der US- und Nato-Truppen aus Afghanistan im Mai haben die militant-islamistischen Taliban gewaltige Gebietsgewinne verzeichnet. Am Wochenende eroberten sie weitere Großstädte und rückten am Sonntagabend nach und nach auch in die Millionenmetropole Kabul ein, wo sie unter anderem den Präsidentenpalast besetzten.
USA schicken wohl weitere Soldaten – Flughafen soll gesichert werden
Die USA wollen Medienberichten zufolge angesichts des rasanten Eroberungszugs der Taliban rund 1.000 weitere Soldaten nach Afghanistan entsenden. Damit würde die Zahl der US-Militärangehörigen, die in Kabul oder auf dem Weg dorthin sind, auf rund 6.000 steigen. Ihre Hauptaufgabe sei die Sicherung des internationalen Flughafens, von dem etwa Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verschiedener Botschaften ausgeflogen werden.
Die Aufständischen wollen ein "Islamisches Emirat Afghanistan" errichten, so wie schon vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001. Damals setzten sie mit drakonischen Strafen ihre Vorstellung eines "Gottesstaats" durch: Frauen und Mädchen wurden systematisch unterdrückt, Künstler und Medien zensiert, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung.
Botschaften werden mit Hochdruck evakuiert
Die Bundesregierung begann angesichts der gefährlichen Lage unter Hochdruck mit der Evakuierung des Personals der deutschen Botschaft. Am Sonntagmorgen wurden dann die ersten deutschen Staatsangehörigen ausgeflogen. Außerdem sollten in der Nacht zum Montag Bundeswehr-Transportflugzeuge aufbrechen, um weiter Menschen auszufliegen. Die Botschaft in Kabul wurde zunächst dichtgemacht, die Mitarbeiter wurden zum militärischen Teil des dortigen Flughafens gebracht. Auch die USA räumten ihre Botschaft.
Ghani schrieb zur Begründung seiner Flucht auf Facebook, andernfalls wären zahlreiche Landsleute getötet und die Stadt Kabul zerstört worden. "Ich entschied mich zu gehen, um dieses Blutvergießen zu verhindern." Die Taliban hätten ihre Macht mit Waffengewalt errungen und seien nun dafür zuständig, die Leben, das Vermögen und die Ehre der Bürger zu schützen.
Der Vorsitzende des Nationalen Rats für Versöhnung, Abdullah Abdullah, äußerte sich empört. Er sagte in einer Videobotschaft, Gott möge Ghani zur Rechenschaft ziehen. Auch das Volk werde über ihn richten. Angaben dazu, wohin Ghani abreiste, machte Abdullah nicht. Lokale Medien berichteten, er sei nach Tadschikistan geflogen.
Die Taliban hatten in den vergangenen knapp eineinhalb Wochen fast alle Provinzhauptstädte eingenommen. Viele waren kampflos an sie gefallen. Am Samstagabend (Ortszeit) hatten sie Masar-i-Scharif im Norden und am Sonntagmorgen Dschalalabad im Osten erobert. In Masar-i-Scharif war bis vor wenigen Wochen ein großes Feldlager der Bundeswehr gewesen, erst Ende Juni zogen die deutschen Soldaten von dort ab. Die Bundeswehr hatte zuletzt afghanische Sicherheitskräfte im Zuge des Nato-Einsatzes "Resolute Support" ausgebildet.
Kritik an Biden-Regierung
US-Außenminister Antony Blinken verteidigte erneut den Truppenabzug, räumte allerdings ein, dass auch die USA von den Ereignissen überrascht worden seien. Die einheimischen Streitkräfte seien nicht in der Lage gewesen, das Land zu verteidigen – "und zwar schneller, als wir es erwartet hatten". Führende Republikaner kritisierten unterdessen US-Präsident Joe Biden wegen eines angeblich "verpfuschten Abzugs" aus Afghanistan. Die "hektische Evakuierung" von Amerikanern und afghanischen Helfern sei ein "beschämendes Versagen der amerikanischen Führung", sagte etwa der Minderheitsführer der Republikaner im US-Senat, Mitch McConnell. Die USA hätten die Möglichkeit gehabt, "diese Katastrophe zu vermeiden".
Die Taliban versuchten, die Furcht der Bevölkerung vor Chaos und Gewalt zu zerstreuen. Suhail Schahin, ein Unterhändler bei den Gesprächen mit der afghanischen Regierung in Katar, sagte der BBC: "Wir versichern den Menschen (...) in der Stadt Kabul, dass ihr Hab und Gut und ihre Leben sicher sind." Es werde "keine Rache an irgendjemandem" geben.
Dramatische Szenen am Flughafen in Kabul
Dennoch spielten sich in Kabul und am späten Abend auch am Flughafen chaotische Szenen ab: Hunderte Menschen waren auf dem Flugfeld und versuchten, in einen Flieger zu kommen, wie Videos in Onlinenetzwerken zeigten. In der Stadt kam es zu einer Schießerei vor einer Bank, wie ein Bewohner der Stadt sagte. Viele Menschen versuchten, ihr Erspartes abzuheben und Lebensmittel zu kaufen. Ein Soldat aus Kabul berichtete, seine gesamte Einheit habe die Uniformen abgelegt.
Dieses auf Twitter geteilte Video soll am Abend auf dem Flughafen in Kabul entstanden sein:
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Ein Bewohner des Viertels Kart-e Tschar sagte am Abend, die Islamisten seien bereits im lokalen Polizeihauptquartier. In der Nacht berichteten mehrere Bewohner Kabuls von vereinzelten Schüssen, die sie hörten. Viele Menschen hatten sich zu Hause verbarrikadiert.
Der britische Premierminister Boris Johnson warnte westliche Staaten davor, die Taliban ohne vorherige Absprache als neue Regierung Afghanistans anzuerkennen. Johnson sagte nach einer Sitzung des nationalen Sicherheitskabinetts, es sei "sehr wichtig, dass der Westen zusammenarbeitet, um dieser neuen Regierung – ob es Taliban sind oder jemand anderes – klarzumachen, dass niemand will, dass Afghanistan wieder zur Brutstätte für Terrorismus wird".
- Nachrichtenagenturen dpa, Reuters und AFP
- BBC: Newsblog zur Lage in Afghanistan