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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz unter Druck Die Impfpflicht wackelt
Olaf Scholz wollte eine Impfpflicht spätestens ab März einführen. Doch angesichts der Omikron-Durchseuchung wachsen auch in der Regierung die Zweifel an dem Vorhaben. Kippt das geplante Gesetz?
Am Donnerstagmittag absolvierte Karl Lauterbach eine seiner Grundübungen in der Corona-Pandemie: Er wiederholte sich. Diesmal wiederholte er nicht seine Warnung vor weiteren Wellen oder seinen Aufruf zum Maskentragen – sondern seinen Appell für eine Impfpflicht. Mit blauem Pullover und weißem Hemd stand er am Rednerpult des Bundestages und sagte: "Der sicherste Weg zur Beendigung der Pandemie" sei die "Einführung einer allgemeinen Impfpflicht".
Doch selbst in der Wiederholung blieb Lauterbach allgemein. Und lieferte somit eine Steilvorlage für die Opposition. Als direkt nach dem Gesundheitsminister der CDU-Abgeordnete Tino Sorge ans Rednerpult trat, legte er los: "Sie haben nicht gesagt: Ist das die Meinung des Ministers? Ist das die Meinung des Abgeordneten Karl Lauterbach?"
Es war eine erwartbare Attacke, doch sie trifft das Problem der aktuellen Ampelregierung: Ja, man ist für die Impfpflicht, sogar schon seit Längerem. Aber wie diese Impfpflicht aussehen oder überhaupt beschlossen werden soll, darüber herrscht Uneinigkeit. Kanzler Olaf Scholz sagte bislang, dass er dafür sei und auch als Abgeordneter dafür stimmen wolle. So ähnlich äußern sich mehrere Mitglieder der Ampelkoalition. Was allerdings fehlt, ist ein konkreter Gesetzentwurf. Den wollen weder Scholz noch sein Gesundheitsminister vorlegen.
Stattdessen setzt die Ampelkoalition nun auf Gruppenanträge der Bundestagsabgeordneten. Die Idee dahinter: Die Parlamentarier sollen sich überlegen, für welche Art von Impfpflicht sie votieren wollen – und das anschließend als Gesetz beschließen. Vor allem sollen sie dabei frei von Partei- und Fraktionszugehörigkeit sein. Denn die Koalition hat das mögliche Votum zu einer "Gewissensentscheidung" erklärt.
Olaf Scholz hatte noch im November gesagt, eine Impfpflicht sei ab "Anfang Februar, Anfang März" richtig. Schon jetzt ist klar, das daraus nichts mehr wird. Aber nicht nur der Zeitplan gerät ins Wanken. Zwei Gründe könnten dazu führen, dass die Impfpflicht am Ende gar nicht kommt.
Die Krux mit der Beugehaft
Es ist ziemlich unklar, wie die Impfpflicht aussehen soll. Das ist der erste und wichtigste Grund. Sollen alle Bürger gezwungen werden, sich impfen zu lassen? Wie viele Impfungen soll die Pflicht umfassen? Zwei? Drei? Oder sogar vier? Gilt die Impfpflicht auch für Genesene? Gibt es ohnehin bald "mildere Mittel", also weniger starke Eingriffe in das Leben der Menschen, die auch die Pandemie beenden? Beispielsweise gute Medikamente? Wie wahrscheinlich ist eine weitere Mutation – und hilft dagegen eine Impfpflicht mit den aktuellen Impfstoffen?
Über mögliche Konsequenzen herrscht ebenso Unklarheit. Denn einerseits ist der Kern einer gesetzlichen Pflicht, dass man den Bürger zu einem Handeln zwingt. Andererseits wurde bereits von der Regierung ausgeschlossen, dass eine sogenannte "Beugehaft" angeordnet wird, wenn Impfverweigerer das dann verhängte Bußgeld nicht zahlen wollen. Doch was geschieht stattdessen?
Über all diese Fragen ringen die Abgeordneten fraktionsübergreifend miteinander. Welcher Partei man dabei angehört, spielt für die eigene Position oft keine Rolle. Ob sich überhaupt ein mehrheitsfähiger Konsens finden lässt, bezweifeln immer mehr Parlamentarier – zu unterschiedlich sind die Positionen. Es könnte am Ende schlicht zu viele verschiedene Gruppenanträge geben.
Der zweite Grund, warum die geplante Impfpflicht ins Wanken gerät, ist die Dominanz der Omikron-Variante. Bei den Corona-Infektionen gibt es laut Robert Koch-Institut mittlerweile einen Höchstwert, die Weltgesundheitsorganisation rechnet damit, dass sich in sechs bis acht Wochen mehr als die Hälfte der Menschen in Europa mit Omikron infiziert haben könnte. Und es zeigt sich, dass die Variante nicht zwangsläufig zu einem schweren Verlauf führt, im Gegenteil: Viele Infektionen gehen nur mit leichten Symptomen einher. Weil sich diese Variante aber so rasend verbreitet, sprechen einige Wissenschaftler bereits davon, dass sich eine endemische Lage abzeichnet. Wozu braucht es dann noch eine Impfpflicht?
Es ist kompliziert. Wackelt die Impfpflicht also doch? Am Ende wird es darauf ankommen, dass sich genügend Abgeordnete hinter einem Antrag versammeln. Was kompliziert genug werden könnte. Denn der sprichwörtliche Teufel steckt im Detail.
Scholz: Unbürokratisch und ab 18
Olaf Scholz hat sich am Mittwoch festgelegt – und damit faktisch auch einen Großteil seiner SPD. Denn die würde ihren Kanzler enorm beschädigen, wenn sie nicht mehrheitlich seiner Linie folgte. Im Bundestag sagte Scholz, dass er eine Impfpflicht für "alle Volljährigen" für richtig halte. Dafür solle eine "möglichst unbürokratische Lösung" gefunden werden.
Das "unbürokratisch" wird in Fraktionskreisen dabei als Absage an ein Impfregister gewertet. Also eine Liste, auf der der Impfstatus jedes Impfpflichtigen vermerkt würde. Und da lauert schon der erste Streit um ein ziemlich großes Detail. Denn in der Union fordern viele genau so ein Impfregister. Ohne könne eine Pflicht gar nicht streng kontrolliert werden.
Allerdings wäre ein solches Register auch eine neue, heikle Bürokratie mit sensiblen Gesundheitsdaten. Die nicht nur Impfgegner, sondern auch Befürworter abschrecken könnte, so eine Argumentation aus der SPD.
Würden genug Unionsabgeordnete, die generell für eine Impfpflicht sind, also einem Gruppenantrag ohne Impfregister zustimmen? Und tun es überhaupt genug SPD-Abgeordnete? Denn auch bei denen ist eben nicht nur die Scholz-Position zu finden.
Die gute Nachricht für den Kanzler: In den Reihen der Grünen zeichnet sich Unterstützung ab. Dort wollen sich dem Vernehmen nach Abgeordnete an einem Antrag für eine Impfpflicht ab 18 beteiligen. Unter anderem der profilierte Gesundheitspolitiker Janosch Dahmen und der Rechtsexperte Till Steffen arbeiten daran gerade mit. Alle dürften den Antrag aber auch hier nicht unterstützen.
Die doppelte FDP
In keiner Regierungsfraktion sind die Haltungen so unterschiedlich wie in der FDP. Vor allem die Liberalen seien dafür verantwortlich, dass die Ampel keinen Gesetzesentwurf vorgelegt habe, heißt es aus Regierungskreisen. Im Wahlkampf hatte Parteichef Christian Lindner noch vor der Diskriminierung von Ungeimpften gewarnt. Nun ist er offen für eine Impfpflicht – und sagte das bereits vor einigen Wochen. Mittlerweile heißt es in der Partei, Lindner sei "zu früh zu weit gesprungen". Kürzlich erklärte der Ober-Liberale schon wieder einschränkend: "Ich bin nicht mehr prinzipiell dagegen." Und: "Aber ich bin auch nicht positiv entschieden."
Klingt eher nach einer Kurssuche als nach einer Entscheidung.
Andere sind da schon weiter, beispielsweise FDP-Bundestagsvizepräsident Wolfgang Kubicki. Er hat den bisher einzigen Antrag im Parlament vorgelegt, der sich gegen eine Impfpflicht ausspricht. Zwar haben den Antrag erst gut zwei Dutzend Abgeordnete unterschrieben, teilweise auch aus der Union. Doch die Zahl der Skeptiker wächst. Der Abgeordnete Jens Beeck sagt etwa, dass noch gar nicht sicher sei, wie lange die Wirkung der Booster-Impfung vorhalte und wie viele es davon brauche: "Daher besteht aus meiner Sicht zurzeit noch keine hinreichende Grundlage für die Einführung einer gesetzlichen Impfpflicht."
Martin Hagen, bayerischer FDP-Chef und Mitglied des Bundesvorstands, sagt hingegen: "Die Impfung ist für alle ratsam. Aber das Risiko eines ungeimpften 20- oder 30-Jährigen, auf die Intensivstation zu kommen, ist trotzdem kleiner als das Risiko eines geimpften 70- oder 80-Jährigen. Eine Impfpflicht für junge Menschen würde also keinen spürbaren Effekt auf die Intensivstationen haben."
Es ist die Position, die im politischen Berlin als Ullmann-Linie diskutiert wird, nach ihrem Urheber, dem FDP-Gesundheitspolitiker Andrew Ullmann. Sie lautet zusammengefasst so: Impfpflicht ja, aber nur für Menschen über 50 Jahren. Diese Linie finde nicht nur bei FDP-Abgeordneten Anklang, heißt es derzeit. Damit könnte der Vorschlag das Lager der Impfpflicht-Befürworter spalten – und die Mehrheitsfindung erschweren.
Unter Beobachtung
Denn damit zeichnen sich schon mindestens drei grobe Linien ab, innerhalb derer es aber weiteren Detailstreit geben dürfte, man denke an das Impfregister:
- Die Kubicki-Linie, also die generelle Ablehnung einer Impfpflicht
- Die Scholz-Linie, also eine Impfpflicht für Erwachsene
- Und die Ullmann-Linie, also eine Impfpflicht ab 50 Jahren
Am kompliziertesten ist die ganze Sache für die FDP, weil sie das Thema Freiheit am stärksten betont. Hätte die Partei die Wahl zwischen einem wiederkehrenden Lockdown und einer Impfpflicht, täte sie sich mit Letzterem wohl leichter. Doch die moderate Auslastung der Intensivbetten trotz einer Rekordinzidenz lässt viele mit einem Verzicht auf die Impfpflicht liebäugeln.
Manch ein aktueller Skeptiker weiß aber auch um das grundsätzliche politische Risiko: Sollte im Herbst eine Variante auftreten, gegen die eine Impfpflicht geholfen hätte und man hätte sich jetzt dagegen entschieden, wäre der politische Schaden gigantisch. Jemand aus der Führungsriege der Partei macht deshalb einen Kompromissvorschlag: "Wir könnten auch eine Impfpflicht beschließen, die nur für den Fall greift, dass es neue, gefährlichere Mutanten gibt – und wir einen entsprechenden Impfstoff dagegen haben."
Es wäre ein weiterer Detailstreit, der die Diskussion nicht leichter machen würde.
Es werden noch Monate vergehen
Was schon jetzt klar ist: Bis eine Impfpflicht wirklich greifen kann, werden noch viele Monate vergehen. Die Abgeordneten sollen sich zunächst Ende Januar in einer sogenannten Orientierungsdebatte austauschen. Im Februar, so die Hoffnung der SPD, soll sich dann eine Mehrheit hinter einem Gruppenantrag versammeln. Ende März könnte der Bundestag das Gesetz dann beschließen. Und anschließend muss auch der Bundesrat noch zustimmen.
Aber im Anschluss, so heißt es in der SPD, müssten die Menschen ja noch ausreichend Zeit bekommen, sich auch impfen zu lassen, sagte die Parlamentarische Geschäftsführerin der Partei, Katja Mast, diese Woche. Als Vorbild nannte sie das Vorgehen bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht. Die hatte der Bundestag Mitte Dezember beschlossen. Greifen soll sie ab Mitte März. Also drei Monate später.
Für die allgemeine Impfpflicht würde das bedeuten: Ende Juni. Vorausgesetzt, es findet sich überhaupt irgendeine Mehrheit.
- Eigene Recherchen