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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verfassungsschutz mit neuer Einschätzung Die Zeit läuft für die AfD
Der Bundesverfassungsschutz beobachtet künftig Teile der AfD. Der Partei steht jetzt eine wichtige Entscheidung bevor.
Der Bundesverfassungsschutz ist nicht für außerordentliches Pathos bekannt, eher schon als Hort grauer Männer in grauen Anzügen. Insofern war es ein ungewöhnlicher Moment, als Thomas Haldenwang, der neue Präsident des Geheimdienstes, bei einer der eher seltenen Pressekonferenzen erst Artikel 1 des Grundgesetzes zitierte: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Und dann hinterher schob: "Dieser Pflicht bin ich heute nachgekommen." Da klang doch etwas Pathos durch.
Haldenwang hatte vorher verkündet, wie das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) künftig mit der AfD umgehen will und dass Teile der Partei aus der Sicht des Dienstes die Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leugnen. Ein brisantes Thema, hochpolitisch. Doch ihm, dem grauen Mann im blauen Anzug, gelang, woran sein Vorgänger Hans-Georg Maaßen zuletzt mit seinen Aussagen zu rechtsextremen Demonstrationen in Chemnitz und Treffen mit AfD-Politikern gescheitert war: Haldenwang, etwas verschmitzter als Maaßen, fand eine Balance zwischen Politik und Recht und zwischen klarer Haltung und politischer Offenheit. Damit schickte er eine unausgesprochene Botschaft an die Partei, die trotzdem klar zu verstehen war.
Kein Ermessensspielraum
Die Frage, ob die AfD, oder doch mindestens Teile von ihr, nicht offensichtlich menschenfeindliche und demokratiefeindliche Positionen vertreten, beschäftigt die deutsche Öffentlichkeit schon lange. Dass der Verfassungsschutz zwar Gruppen der Linken beobachtet, nicht aber der AfD, ist umstritten. Auch einige Landesämter des Verfassungsschutzes wollten das schon ändern. Aber weil die AfD eben in allen Landesparlamenten und im Bundestag sitzt, ist das so heikel. Der Verdacht, der von Anhängern und Mitgliedern der AfD geäußert wird: Es handle sich um politische Verfolgung.
Haldenwang verwies in dieser Situation auf das Gesetz. "Wir haben einen gesetzlichen Auftrag", sagte er. Da bestehe kein Ermessensspielraum. Der Verfassungsschutz muss die Verfassung schützen.
Deshalb ist es eigentlich unverfänglich, fast trivial, wenn der Verfassungsschutzpräsident den Artikel 1 des Grundgesetzes zitiert, und es ist zugleich doch eine klare Ansage: "Die Würde des Menschen ist unantastbar", das ist schließlich mehr als ein Rechtssatz. Es ist ein Auftrag und ein Bekenntnis. Haldenwang hat damit das Spannungsverhältnis zum Ausdruck gebracht, das darin besteht, dass das Politische, das Gute und Richtige und das Rechtliche nicht mehr zu trennen sind, wenn es um die Grundlagen der Verfassung geht.
Nachrichtendienstliche Mittel möglich
Nicht alles, was jemand politisch frei wollen kann, will auch die Verfassung. Neutralität endet an diesem Punkt. Wer die Würde des Menschen infrage stellt, die Demokratie oder Rechtsstaatlichkeit, also die freiheitliche demokratische Grundordnung, den muss der Verfassungsschutz in den Blick nehmen, selbst wenn es politisch heikel ist.
Das BfV fand nach der Prüfung von Programmen, Reden, Social-Media-Profilen und Interviews Belege dafür, dass die Jugendorganisation Junge Alternative und der extrem rechte Flügel Der Flügel um Björn Höcke die Menschenwürde verletzt, Menschen verächtlich macht, Muslimen und Flüchtlingen feindlich gesinnt ist und Demokratie und Rechtsstaat infrage stellt. Es gibt demnach jedenfalls "hinreichende gewichtige Anhaltspunkte", dass JA und Flügel extremistisch sind. Dabei wurden bloße Kontakte zu extremistischen Organisationen wie zur Identitäten Bewegung und sämtliche Äußerungen in Parlamenten noch nicht einmal einbezogen, weil Abgeordnete besonderen Schutz genießen und bloße Beziehungen zu Extremisten nicht zählen dürfen.
Beide erklärt das BfV deshalb zu "Verdachtsfällen". Von jetzt an darf das BfV von Mitgliedern dieser Gruppen personenbezogen Daten erheben und speichern, auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln – etwa durch V-Personen.
Das Parteiprogramm ist sauber
Damit hat der Verfassungsschutz schon einmal viele Möglichkeiten. Der Flügel hat keine offiziellen Mitglieder, nur ein Gründungsdokument (die Erfurter Resolution) und das Kyffhäusertreffen, eine Art Flügel-Parteitag. Höcke ist Gründer des Flügels, Vorstandsmitglied Andreas Kalbitz Unterzeichner der Erklärung, Vorstandsmitglieder aus mehreren Landesverbänden gehören dazu. Höcke und Kalbitz sind Spitzenkandidaten bei den Landtagswahlen in Thüringen und Brandenburg im Herbst. Die beiden Parteichefs Alexander Gauland und Jörg Meuthen waren mehrfach beim Kyffhäusertreffen zu Gast. Gauland soll dem Flügel zufolge auch die Erfurter Resolution unterzeichnet haben.
Die wichtigsten Köpfe der Partei kann der BfV also in den Blick nehmen, ohne gleich die ganze Partei unter Extremismusverdacht zu stellen.
Das tat er nämlich nicht. Der Verfassungsschutz sagt vielmehr: Die AfD als Ganzes ist das nicht. Sie habe rund 30.000 Mitglieder, vertrete viele Positionen, und ihre offiziellen Programmpapiere sind sauber. Zwar sagen Funktionäre möglicherweise Verfassungswidriges, aber die Partei als Ganzes vertritt nicht klar solche Positionen.
Nun bearbeitet, und hier zeigt sich ein politischer Trick, das Amt die AfD als: "Prüffall". Das ist keine formale Einstufung, das Amt darf weiterhin nur öffentlich zugängliche Quellen sichten und darf auch keine Personenakten anlegen. Es systematisiert nur seine bisherigen Beobachtungen. Dadurch, dass es nun aber im Rahmen einer Pressekonferenz verkündet wurde, wirkt es wie eine offizielle Statusänderung.
Klare Botschaften
Das schickt nach draußen die Botschaft, dass der Verfassungsschutz die AfD nicht behütet – dieser Verdacht war von Kritikern der Partei und der Dienste mitunter geäußert worden. Gerade nach den Aussagen des ehemaligen Präsidenten Maaßen. Es schickt aber auch die Botschaft an die AfD, dass ihr noch alle Wege offen stehen. Die Partei hat bereits Klage angekündigt. Aus dem Amt heißt es aber, über die Sache geredet werde ja sowieso. Man tue der AfD sogar einen Gefallen mit der öffentlichen Verkündung, denn sie habe jetzt verbrieft, dass sie nicht extremistisch sei. Man muss hinzufügen: Noch nicht.
Haldenwang würde das so offen natürlich nicht sagen. Aber er sagte über die AfD: "Sie steht am Scheideweg." So oder so ähnlich formulierte er mehrfach, vor allem, wenn er nach den nächsten Schritten gefragt wurde. Man könne nicht ewig prüfen, sagte er, aber es gebe auch kein Enddatum. Alles komme jetzt darauf an, wie sich die Partei entwickle. Jeder weiß jetzt, wie das Amt über Höcke denkt. Wie wird die Partei darauf reagieren?
- Prüffall AfD: So begründet der Verfassungsschutz seine Entscheidung
Es sei nicht seine Aufgabe, sagte Haldenwang außerdem, der AfD Ratschläge zu geben – dieser Verdacht war etwa gegen Maaßen erhoben worden. Haldenwang bewies, dass man keine Ratschläge geben muss, um Ratschläge zu geben. Und keine Deadline, um eine Deadline zu setzen: Die Zeit läuft für die AfD.
Denn die Würde des Menschen ist unantastbar und sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, auch des Verfassungsschutzes.
- Eigene Recherchen
- Pressekonferenz und Pressemitteilung des Bundesamtes für Verfassungsschutz