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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Frust nach Pistorius-Verzicht "Das ist doch genau das, was die Menschen uns vorwerfen"
Nach Pistorius' Verzicht auf die Kanzlerkandidatur herrscht bei der SPD Katerstimmung. Die Kanzlerpartei geht jetzt beschädigt in den Wahlkampf – die Verantwortung dafür trägt die Spitze.
Frust, Ratlosigkeit, Unverständnis – am Tag nach dem Pistorius-Rückzug ist die Stimmung in der SPD weiterhin angeschlagen. Donnerstagabend hatte Verteidigungsminister Boris Pistorius in einer Videobotschaft erklärt, dass er nicht als Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten zur Verfügung stehe. Es sei seine "souveräne und persönliche" Entscheidung, so der 64-Jährige in dem dreiminütigen Clip.
Es war der Höhepunkt eines einwöchigen Machtkampfes innerhalb der SPD, der vor allem über die Medien, aber auch hinter den Kulissen ausgetragen wurde. Kreispolitiker, mächtige Abgeordnete und Landesverbände hatten sich vorgewagt, um Kanzler Olaf Scholz (SPD) abzusägen und Pistorius als Kanzlerkandidaten durchzudrücken. Denn viele erhofften sich bessere Wahlchancen mit Pistorius, dem beliebtesten Politiker des Landes seit fast zwei Jahren.
Doch die Parteigranden, allen voran SPD-Chef Lars Klingbeil und der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich, vereitelten das Vorhaben. Sie hielten Scholz so lange die Treue, bis Pistorius offenbar aus eigener Initiative die Debatte beendete. Ein beliebter Kandidat, der nie offiziell angetreten war, musste sich zurückziehen, damit ein unbeliebter Kandidat und gescheiterter Kanzler von der Gesamtpartei akzeptiert wurde. Vorerst zumindest.
Auch Erleichterung macht sich breit
So lassen sich die Zustände in der SPD derzeit beschreiben. Immerhin: Die quälende Debatte der vergangenen Tage, die Ungewissheit, die unnötige Selbstdemontage der Genossen – sie hat ein Ende. Horcht man in die Partei hinein, erfährt man auch von einem Gefühl der Erleichterung, dass die Sache endlich geklärt ist.
Gleichwohl stecken einigen die Ereignisse noch in den Knochen. Auch weil noch Fragen offen sind, etwa, wie es überhaupt zu der Entscheidung am Donnerstag gekommen ist. So trafen sich nach t-online-Informationen am Nachmittag die SPD-Spitzenleute zu einer Krisenrunde im Willy-Brandt-Haus. Mit dabei waren neben Pistorius und Scholz die Parteichefs Lars Klingbeil, Saskia Esken, Generalsekretär Matthias Miersch und Fraktionschef Rolf Mützenich.
Was geschah am Donnerstag?
Was geschah während der Sitzung? Dazu gibt es unterschiedliche Darstellungen. Laut "Handelsblatt" soll die Entscheidung "spitz auf Knopf" gestanden haben, vor allem große Teile der SPD-Bundestagsfraktion haben sich demnach für Pistorius starkgemacht. Doch Scholz habe das nicht akzeptieren wollen und wurde dabei auch von Fraktionschef Mützenich unterstützt. Um einen Zweikampf zu verhindern, soll Pistorius schließlich seinen Verzicht erklärt haben.
Nach t-online-Informationen hatte Pistorius allerdings schon vor dem Treffen seinen Rückzug verkündet. Demnach habe Pistorius das der SPD-Spitze "vorab kommuniziert", bevor er im Anschluss die Partei- und Fraktionsführung traf, so eine Quelle zu t-online. Die "Bild"-Zeitung berichtete zuerst über Pistorius' frühzeitigen Verzicht am Donnerstagmittag. Doch was vorher passierte, insbesondere zwischen Mittwochmorgen, als Scholz vom G20-Gipfel aus Rio zurückkam, und Donnerstag, ist weiter unklar.
"So sieht Motivation aus"
Wie schlecht die Gemütslage vor allem in der Bundestagsfraktion ist, zeigte sich in der gemeinsamen Videoschalte von Fraktion und Parteivorstand am Donnerstagabend. Ein Teilnehmer beschrieb die Stimmung als "Totentanz", ein anderer fand die Schalte "gruselig" und "surreal". Ein weiterer Teilnehmer berichtete von versteinerten Mienen und ernsten Gesichtern bei Pistorius, Klingbeil und zahlreichen Abgeordneten. "So sieht Motivation aus", so der Genosse sarkastisch zu t-online.
Nach einer kurzen Einleitung von Fraktionschef Mützenich erklärte Pistorius der Runde, warum er nicht zur Verfügung stehe. Er erinnerte Teilnehmern zufolge an das Jahr 2015, als seine damalige Frau an Krebs starb, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, und wie sehr ihn das persönlich herausgefordert habe. Nun sei er seit einem Jahr wieder verheiratet, für ihn gebe es noch anderes im Leben. Pistorius ist seit Dezember 2023 in einer Ehe mit der Politikwissenschaftlerin Julia Schwanholz.
"Die SPD ist eine Kampfpartei"
Ob die privaten Gründe wirklich die ausschlaggebenden waren? Daran gibt es zumindest in der SPD-Fraktion Zweifel. Auch Pistorius selbst hat in den vergangenen Tagen eher den gegenteiligen Eindruck gemacht: dass er sich die Kandidatur durchaus zutraut. Noch am Montag, als die K-Debatte fast ihren Siedepunkt erreichte, sagte er auf die Frage nach der Kanzlerkandidatur: "In der Politik sollte man nie irgendetwas ausschließen." Nun hat er es doch getan.
Zugleich wünschen sich auch Pistorius-Befürworter nun einen Schlussstrich unter die Debatte. Der rheinland-pfälzische Bundestagsabgeordnete Joe Weingarten, der vor wenigen Tagen noch offen für den Verteidigungsminister warb, sagte t-online: "Wir haben jetzt eine Entscheidung, die müssen wir akzeptieren. Die SPD ist eine Kampfpartei und wir werden gemeinsam mit Olaf Scholz kämpfen."
Ob sich die Reihen in der SPD nun tatsächlich schließen, werden erst die nächsten Wochen zeigen. Klar ist: Die vergangenen Tage haben der Partei und ihrem Kandidaten massiv geschadet. Die Kanzlerpartei wirkte zuletzt chaotisch, zerrissen, bisweilen panisch. Sie hat den eigenen Kanzler düpiert und CDU-Chef Friedrich Merz ein Drehbuch in die Hand gegeben, um Scholz im Wahlkampf zu attackieren. Merz braucht Scholz nur die Zitate der letzten Tage vorzuhalten, um den Eindruck zu untermauern, nicht einmal die eigene Partei stehe hinter ihm.
Parteispitze im Feuer
Verantwortlich für die Misere sind Lars Klingbeil und Saskia Esken. Die Parteivorsitzenden haben die Entscheidung in der K-Frage unnötig hinausgezögert und die Partei lange im Ungewissen gehalten. Aus Sicht vieler Genossen wäre der beste Zeitpunkt vor zwei Wochen gewesen, als Scholz Christian Lindner aus der Ampelregierung warf. Kurzzeitig herrschte da so etwas wie Euphorie unter den Sozialdemokraten, selbst Scholz-Kritiker jubelten dem Kanzler zu. Doch die Parteispitze ließ die Chance verstreichen – eine Fehlentscheidung.
Noch am Mittwoch verteidigte Klingbeil in einem Podcast sein Zaudern, verwies auf interne Absprachen und Zeitpläne, an die er sich halten wolle. Angesichts des politischen Flurschadens, der zu diesem Zeitpunkt bereits angerichtet war, wirkte das fast grotesk. Überhaupt hatte man den Eindruck, dass vor allem parteiinterne Prozesse und die Gremienlogik die handelnden Akteure antrieben, nicht etwa die Stimmung in der Partei oder im Land. Wollte die SPD nicht wieder näher bei den Menschen sein?
Ein Abgeordneter zu t-online: "Das ist doch genau das, was die Menschen uns vorwerfen: Dass wir zu weit weg sind von der Lebenswirklichkeit der Leute, dass wir nicht mehr zuhören." Man könne nicht nach jeder Wahlschlappe ankündigen, wieder mehr zuzuhören, und dann bei einer so entscheidenden Frage die Stimmung in der Bevölkerung ignorieren.
Parteichefs ketten ihr Schicksal an Scholz
Gerade Klingbeil, der im Willy-Brandt-Haus als Meister der Abläufe gilt, hat sich in der K-Frage offenbar verkalkuliert. In der Videoschalte der Fraktion am Donnerstagabend soll er sich dennoch unbeirrt gegeben haben, zum Ärger so mancher Abgeordneter. "Lars hat ernsthaft behauptet, dass das ursprünglich genau so geplant war", so ein Teilnehmer der Schalte zu t-online, der die Kommunikation als "katastrophal" empfand.
Die SPD wieder zusammenzuführen und die inneren Verletzungen zu heilen, wird jetzt eine Hauptaufgabe der Parteispitze in den kommenden Wochen. Und das, obwohl sie eigentlich einen Wahlkampf organisieren müsste, der alles andere als leicht wird. Klar ist: Klingbeil und Esken haben ihr Schicksal an Olaf Scholz gekettet. Sollte die SPD mit 15 Prozent oder weniger von den Wählern abgestraft werden, wäre das am Ende der gemeinsame Malus von Kanzler und Parteispitze.
"14 Prozent wären der Super-GAU", urteilte ein erfahrener Sozialdemokrat. Nicht nur die Fraktion würde zusammenkrachen, auch die Parteienfinanzierung, die Mitarbeiter, die Parteibüros im Land. Mehrere Genossen sagten t-online hinter vorgehaltener Hand, dass das zweifellos Konsequenzen für die Parteiführung hätte. "Lars wäre weg, Saskia sowieso", so eine der Stimmen. Der Wahlkampf der SPD, er steht unter keinen guten Vorzeichen.
- Eigene Recherchen
- handelsblatt.com: Boris Pistorius verzichtet auf Kanzlerkandidatur
- bild.de: Was den SPD-Machtkampf entschied