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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Scholz bei Wahlkampftermin in Leipzig Er redet einfach weiter
Olaf Scholz hat eine Mission für die bevorstehenden Wahlkämpfe. Immer wieder betont er die Themen Frieden und Sicherheit, in dem Wissen, dass sie funktionieren. In Leipzig macht sich noch eine andere Qualität des Kanzlers bezahlt.
Für einen kurzen Moment ist nicht klar, wie die Sache ausgeht. Als am Samstagnachmittag auf dem Burgplatz in der Leipziger Innenstadt eine Gruppe junger Menschen beginnt, dem Bundeskanzler entgegenzuschreien, drehen sich hunderte Köpfe in ihre Richtung. Sie rufen "Blut, Blut, Blut an euren Händen." Auf dem Tuch, das sie hochhalten, steht "Deutsche Waffen töten in Gaza".
Ein paar Meter weiter vorn spricht Olaf Scholz auf einer Bühne. Die SPD ist kurz vor der Europawahl noch einmal mit der kompletten Mannschaft nach Leipzig gekommen. Der Kanzler, die Parteivorsitzenden, die Spitzenkandidatin – sie alle treten hier auf.
Bei so viel Politprominenz ist das Interesse groß, das Eskalationspotenzial hoch. Auch hinter den Absperrungen tummeln sich Menschenmassen. Und als Scholz an der Reihe ist, scheint die Situation für eine Millisekunde zu kippen. Bis klar wird: So viele sind es gar nicht, die da protestieren.
Scholz im Wahlkampf – zieht das noch?
Für den Kanzler sind es keine ganz einfachen Zeiten. Multiple Krisen, die große Unzufriedenheit mit der Ampel – mal ganz abgesehen davon, dass das Geld knapp ist. Die bevorstehenden Haushaltsverhandlungen drohen zu einer erneuten Zerreißprobe zu werden. Und die schlechte Stimmung in der Koalition scheint sich überhaupt nicht mehr zu bessern. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um Wahlkampf zu machen. Dass es da Kritik hagelt, wird fast schon erwartet.
Zumal der Blick auf die Umfragen die Sozialdemokraten nicht wirklich optimistischer stimmen dürfte. Bei der bevorstehenden Europawahl in der kommenden Woche kämpft die SPD nur noch um den zweiten Platz. Bei den Landtagswahlen im Herbst droht der Kampf um den Landtagseinzug. Auch für die Kommunalwahlen in Sachsen und Brandenburg drohen verheerende Ergebnisse.
Scholz wirkt dennoch gelassen. Als mache ihm das alles überhaupt keine Sorgen. Ist der Kanzler mit dieser Haltung naiv? Oder behält er gerade Nerven?
Frieden und Sicherheit – das funktioniert
Die Gruppe auf dem Burgplatz beginnt also zu schreien. Doch währenddessen redet Scholz einfach weiter. Kein einziges Mal richtet der Kanzler sich in seiner Rede direkt an die Demonstrantinnen und Demonstranten. Stattdessen arbeitet er sorgfältig seine Themen ab: Demokratie, Frieden, Sicherheit. "Wir werden alles dafür tun, dass es nicht zu einer Eskalation des Krieges zwischen Russland und der Nato kommt", sagt Scholz und bekommt großen Applaus.
Es sind Punkte, die hier interessieren, mit denen Scholz überzeugen kann. Geht man durch die Zuhörerreihen, sind viele aus Interesse gekommen, gar nicht, weil sie Anhänger der Partei sind. Einige von ihnen sagen gleich, dass sie die SPD gar nicht wählen. Aber eine Sache finden sie gut: Scholz' Handeln, wenn es um die Ukraine geht, um Waffenlieferungen. Die SPD hat das seit einer Weile verstanden. Sie verbreitet seitdem das "Friedenskanzler"-Narrativ.
Auch Scholz greift das auf. Betont noch einmal sein "Nein" zu einigen Waffensystemen, zu Bodentruppen – und erntet großen Applaus. Während der Oppositionsführer und CDU-Vorsitzende Friedrich Merz vor einer Woche in Leipzig als "Kriegstreiber" beschimpft wurde, scheint es hier gar kein Thema zu sein. (Zumindest nicht in Bezug auf die Ukraine.)
Merz schreit zurück, aber Scholz?
Als Merz am vergangenen Wochenende auftrat, entschied der sich im Übrigen für einen anderen Umgang mit jenen, die die Veranstaltung störten. Der CDU-Chef wetterte deutlich zurück. Als er über das Bürgergeld sprach, sagte er sogar: "Ich vermute unter denen, die da hinten schreien, die hier vorne schreien, werden da wahrscheinlich einige dabei sein. Gegen den Staat, aber das Geld von diesem Staat nehmen Sie alle wahrscheinlich ganz gern, nech?" Ein Konter, der vielleicht einmal nötig war. Er gibt den Demonstranten aber auch Relevanz.
Auch bei Scholz wird viel geschrien. Sieht man genau hin, wird jedoch klar, dass es sich nur um eine Handvoll Personen handelt. Auch Scholz kann von der Bühne aus sehen, dass es nicht wirklich viele sind. Also sagt er: "Das war ein furchtbarer, ein unmenschlicher, ein niederträchtiger Angriff von Terroristen von der Hamas auf israelische Bürgerinnen und Bürger." Hunderte applaudieren energisch, viele jubeln. Damit ist klar, wo die Mehrheit steht. Und auch, wenn die Schreie nicht aufhören, macht Scholz nun fast ungestört weiter.
Es ist eine Methode, für die der Kanzler sich ohnehin entschieden zu haben scheint: Einfach weiter machen. Nach dem Motto: Die Dinge fügen sich schon. Für die Europawahl und die bevorstehenden Landtagswahlen dürfte die Methode nicht wirklich funktionieren. Interessant wird jedoch sein, wie sie sich im nächsten Jahr auswirkt, wenn wieder Bundestagswahlen sind.
- Eigene Recherche vor Ort