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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Europa-Gipfel Mehr geht nicht
In Granada fanden am Donnerstag und Freitag zwei wichtige europäische Treffen statt. Ob Migration oder Ukraine – zu besprechen gab es viele Krisen. Aber ist dabei auch etwas herausgekommen?
Es ist kurz vor neun, als die dunklen Limousinen der Staats- und Regierungschefs am Freitagmorgen vor dem Kongresszentrum von Granada eintreffen. Dicht gedrängt stehen die Journalisten am blauen Teppich. Sie hoffen auf ein Statement zu den großen Themen, die an diesem Tag beim informellen EU-Ratstreffen besprochen werden sollen: Wie geht es weiter mit der Unterstützung für die Ukraine? Wer beteiligt sich daran? Wie kann die irreguläre Migration gestoppt werden? Was passiert mit den Menschen im Mittelmeer? Und was mit denen aus Bergkarabach?
Doch weil zu den großen Krisen viel Unstimmigkeit herrscht, meidet am Freitagmorgen der eine oder andere Regierungschef den blauen Presseteppich. Der französische Präsident Emmanuel Macron zum Beispiel oder auch die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Bevor Fragen gestellt werden können, huschen sie schnell am Seitenrand vorbei und verschwinden hinter den grünen, gewölbten Mauern des Kongresszentrums.
In vielen wichtigen Fragen ist die EU sich bislang nicht einig
Schon am Vortag hatten sich hier die Vertreterinnen und Vertreter von 27 EU-Mitgliedsstaaten mit denen 20 weiterer europäischer Länder getroffen, der sogenannten Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Die Idee für den informellen Gesprächsrahmen kam ursprünglich von Macron. Ziel ist es, den Austausch zu fördern und die Kommunikation mit Ländern innerhalb wie außerhalb der EU zu verbessern. Das ist aktuell auch dringend notwendig. Denn die Krisen häufen sich, der Druck, sie zu lösen, steigt.
Nun ist es bei 27 Ländern ohnehin schon schwer, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. In Krisensituationen ist es fast unmöglich. Dabei hatte Bundeskanzler Scholz am Donnerstag in einem Statement noch einmal unterstrichen: Die Migrationsfrage sei eine Sache, "die europäisch nur gemeinsam gelingen kann". Das Problem: In Wahrheit war die EU sich in wichtigen Fragen bislang nicht einig.
Eiszeit zwischen Italiens Premier Meloni und Kanzler Scholz
Auch deshalb sollten über zwei Tage in verschiedenen Formaten Annäherungsversuche innerhalb und außerhalb der EU stattfinden. Bei sogenannten Runden Tischen, also Gesprächsrunden etwa zum Thema Sicherheit und zu geopolitischen Fragen. Aber auch in bilateralen Gesprächen am Rande der Veranstaltung. Man nennt das auch politisches Speeddating.
Scholz traf zum Beispiel den britischen Premierminister Rishi Sunak. Der konservative Politiker fordert die EU seit Wochen auf, in der Migrationsfrage geschlossen durchzugreifen. Die italienische Premierministerin Giorgia Meloni hatte sich im Vorfeld des Gipfels an Sunak gewandt, um das Thema bereits für den Donnerstag gemeinsam auf die Agenda zu setzen. Auch mit ihr traf der Kanzler sich in Granada.
Kein einfaches Gespräch. Denn zwischen Scholz und Meloni ist die Stimmung angespannt. Seit Wochen ringt Deutschland mit Italien um Kompromisse in der Migrationspolitik. Italiens rechte Regierung fährt hier einen deutlich härteren Kurs als die Ampel. Auch, weil die Zahl der ankommenden Flüchtlinge in Italien täglich steigt. Also stritt man lange über das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS).
Am Ende konnte Deutschland zwar kleine Teile der dazugehörenden Krisenverordnung neu verhandeln. Italien setzte sich jedoch weitestgehend durch. Scholz spricht dennoch von einem "Fortschritt, den ganz viele noch nicht ermessen können." Die Sache sei immerhin "sehr viele Jahre verhandelt worden – ohne Ergebnis. Jetzt mit Ergebnis", so Scholz.
Alles geklärt also? Eher nicht.
Denn der Konflikt geht weiter. Meloni wirft Scholz' Ampelregierung immer noch vor, die Migrationskrise zu verschärfen. Der Grund: die deutsche Regierung unterstützt Nichtregierungsorganisationen (NGO) für Seenotrettung auf dem Mittelmeer mit finanziellen Hilfen.
Das Treffen zwischen Scholz und Meloni war ein Annäherungsversuch. Das Ergebnis: Bei der Pressekonferenz am Freitagnachmittag redet Scholz von "pragmatischen" Gesprächen. Man habe einen Weg gefunden, miteinander statt gegeneinander zu arbeiten. Kein sonderlich großer Wurf also.
EU auch bei Ukraine und Sanktionen für Aserbaidschan uneinig
Auch in der Frage, wie man im Konflikt um Bergkarabach mit Aserbaidschan und Armenien umgeht, herrscht Uneinigkeit. Die kleine Enklave im Staatsgebiet von Aserbaidschan wird mehrheitlich von Armeniern bewohnt, gehört völkerrechtlich aber zu Aserbaidschan. Um die Region herrscht seit Langem ein Streit zwischen beiden Ländern. Zuletzt hatte Aserbaidschan Bergkarabach militärisch angegriffen, hunderttausend Menschen flüchteten daraufhin nach Armenien. Nun wird befürchtet, dass Aserbaidschan auch armenisches Staatsgebiet angreifen könnte.
Am Donnerstag pochten der EU-Ratspräsident Charles Michel, Bundeskanzler Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zwar auf die Unversehrtheit Armeniens. Allerdings stellte Ungarns Präsident Victor Orbán am Freitag klar, dass stärkerer Druck auf Aserbaidschan etwa in Form von Sanktionen für ihn nicht infrage komme: "Aserbaidschan ist ein Schlüsselland. Ohne Aserbaidschan können wir keine Energie-Unabhängigkeit haben", betonte Orbán.
Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew hatte zuvor kurzfristig seine Teilnahme an einem Gespräch abgesagt, bei dem auch der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan anwesend war. Ein geschlossenes Signal kann die EU daher nicht in Richtung Aserbaidschan senden.
Ähnlich verhielt es sich zuletzt bei der Ukraine: Noch immer ist völlig unklar, wie die EU und auch Deutschland damit umgehen wollen, sollten die USA als wichtigster und größter Unterstützer des angegriffenen Landes wegfallen. Die Gefahr steht aktuell im Raum, da die Republikaner im Kongress ihren eigenen Sprecher abgewählt haben und das Parlament damit derzeit blockiert ist. Mitte November aber muss dort spätestens der Haushalt verabschiedet werden, und dabei wird auch über die Ukraine-Hilfe der USA entschieden.
Muss Scholz kleinteiliger denken?
Es wurde also viel geredet an beiden Tagen in Granada. Schaden kann es nicht, wenn wichtige Staats- und Regierungschefs zusammenkommen, um sich über aktuelle Krisen auszutauschen. Doch in zentralen Fragen der Krisenbekämpfung ist man sich weiterhin uneinig. Die geplante Absichtserklärung, die aus dem Treffen folgen sollte – Polen und Ungarn blockierten sie. Der polnische Premierminister Mateusz Morawiecki kündigte beim Kurznachrichtendienst X, früher Twitter, an: "Ich habe beschlossen, gegen den Teil über die Migration mein Veto einzulegen."
Was bleibt, ist also ein Familienfoto vom Treffen – und die Erkenntnis: Dass an manche Krise womöglich kleinteiliger herangegangen werden muss.
Gelegenheit hat Kanzler Scholz dazu in der kommenden Woche: Dann trifft er in Hamburg den französischen Präsidenten Macron zur deutsch-französischen Kabinettsklausur. Die Chemie zwischen den beiden hatte zuletzt auch nicht immer gestimmt. Für die Zukunft könnte die Zusammenarbeit jedoch wichtiger denn je werden.
- Eigene Recherche