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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Größte Bahnreform seit Jahren Wissings leise Revolution
Die Deutsche Bahn ist in schlechtem Zustand. FDP-Verkehrsminister Volker Wissing will alles anders machen als seine Vorgänger – aber trotzdem niemanden verprellen. Kann das gutgehen?
Eine junge Frau steigt am Nürnberger Hauptbahnhof in den ICE und bricht heulend zusammen. Es ist kurz nach 15 Uhr an einem Sonntagnachmittag im Juli, eine halbe Stunde zuvor hätte dieser Zug Richtung Coburg losrollen sollen. Stattdessen knarzt es jetzt aus den Lautsprechern: "Die Abteile sind zu voll, so können wir nicht fahren." Die Studentin sagt: "Ich komme nie in Coburg an. Ich habe morgen eine Prüfung – und werde nicht da sein."
Plötzlich setzt sich eine ältere Frau neben sie auf den Fußboden: "Ich muss auch nach Coburg. Ich verspreche dir: Im Notfall holt uns mein Mann mit dem Auto ab." Die Studentin wimmert. Dann wischt sie sich mit dem Handrücken ihre Tränen ab, nur langsam beruhigt sie sich. Irgendwann rollt der ICE dann doch noch los.
Die Bahn treibt die Leute zur Verzweiflung. Nicht erst seit diesem Jahr. Das Netz ist schon lange marode, die Technik veraltet, der Personalmangel groß. Aber 2023 ist das Zugchaos besonders schlimm. Meistens sind die Menschen froh, wenn ihr Zug überhaupt fährt.
Der Mann, der die Misere beseitigen soll, ist 53 Jahre alt, trägt Slim-Fit-Anzüge und sagt häufig Sätze wie: "Es ist jetzt Zeit, dass etwas getan wird." Er heißt Volker Wissing, ist in der FDP und Verkehrsminister. Vor mehr als einem Jahr erklärte er die Sanierung der Deutschen Bahn zur "Chefsache". Vermutlich auch zur Überraschung des Bahnvorstands feuerte Wissing die Manager nicht, sondern arbeitete gemeinsam mit dem Bahnvorstand einen Plan aus, der endlich die Wende bringen soll. Also dieses Mal wirklich. Und nicht so unerfolgreich wie bei den unzähligen Anläufen unter Wissings Vorgängern.
Revolution ohne Radau?
Der Verkehrsminister will die Wende, aber im Konsens. Und die nächsten Monate und Jahre werden auch eine Antwort auf die Frage geben, ob eine Revolution ohne Radau wirklich klappen kann.
An einem Mittwoch Mitte Juli sitzt Wissing in seinem Büro im Verkehrsministerium. Er trägt eine rote Krawatte und einen schwarzen Anzug – und sieht zuversichtlich aus. Was ihm wichtig ist: Er will es nicht bei Ankündigungen belassen, sondern die Reform eng begleiten. "Wir kontrollieren im Ministerium engmaschig, dass es vorwärtsgeht", sagt er und lächelt.
Wissing spielt darauf an, dass die Bahn zwar immer ein Aufregerthema war, aber keins, um das sich wirklich mal grundlegend gekümmert wurde. Dem Konzern kam das ganz gelegen. Kay Mitusch vom Karlsruher Institut für Technologie, der seit Jahren zum Thema forscht, sagt: "Die Bahn hat über Jahre – seit der Zeit des Bahnchefs Mehdorn – erfolgreich alle effektiven Kontrollen durch die Politik abgewehrt. Die Politik hat sich aber jahrzehntelang auch nicht besonders bemüht, den Konzern besser zu regulieren." Damit soll nun Schluss sein, findet Wissing.
Das Hauptproblem der Bahn sind nicht kaputte Kaffeemaschinen oder verstopfte Toiletten. Es ist das marode Schienennetz. Die Tausende Kilometer Trassen wurden häufig vernachlässigt. Ging mal eine Weiche kaputt, wurde sie zwar erneuert. Aber das machte die Flickschusterei nur noch größer. Und weil ständig irgendein Teil für Ärger sorgte, der Zugverkehr aber weiter rollen sollte, bestanden die Baustellen viel zu lange und verursachten viel zu viele Verspätungen.
Weichen wurden herausgerissen
Ein weiteres Problem: Die Bahn wurde auf Effizienz getrimmt. Das ist nicht grundsätzlich falsch, aber man hat es eben auch übertrieben. So wurden viele Weichen herausgerissen, weil sie zu selten benutzt wurden und damit als unrentabel galten. Die Konsequenzen wurden nicht bedacht – oder die Kritiker nicht gehört.
In seinem Ministerbüro will Wissing jetzt erklären, was das in der Praxis bislang bedeutete. Er malt auf ein Papier zwei Linien, die zwei Gleise darstellen sollen. Dann zeichnet er eine kleine Baustelle auf der einen Seite und zwei die beiden Gleise verbindende Weichen, die jeweils weit von der Baustelle entfernt sind.
"Wenn jetzt hier der Zug kommt", sagt Wissing und hält seinen Stift so, dass er einen winzigen ICE darstellt, "dann muss er bei der ersten Weiche schon aufs andere Gleis wechseln – sonst rollt er ja in die Baustelle. Dadurch ist das andere Gleis dann für eine weite Strecke blockiert." Langsam lässt Wissing den Stift über das Papier kriechen, an der von ihm gezeichneten Baustelle vorbei und biegt dann zurück auf das ursprüngliche Gleis. "Und erst jetzt", ruft Wissing, "kann er wieder zurückwechseln!"
Das soll künftig völlig anders laufen: Die Züge fahren so nah wie möglich an die Baustelle heran, wechseln dann nur kurz das Gleis und fahren direkt nach der Baustelle wieder zurück. Doch dafür braucht es neue Weichen – und Schienen.
"Man kann auch nicht zwei Halsschlagadern gleichzeitig operieren"
Wissing hat deshalb lange mit der Bahn verhandelt, wie künftig gebaut werden soll. Monate ging es zwischen seinem Ministerium und dem Bahnvorstand hin und her – niemand sollte dabei überrannt werden. Nun steht der Plan: Ab 2024 werden nacheinander verschiedene Hauptstrecken gesperrt und runderneuert. Kein einziger Zug fährt in dieser Zeit über die Schienen, es wird Hunderte Ersatzbusse geben. Für Pendler ist diese Zeit alles andere als schön. Doch wenn nach Monaten alles neu ist, soll jahrelang alles problemlos laufen. Das ist zumindest das Versprechen.
Ab Juli nächsten Jahres beginnen die Bauarbeiten, den Anfang macht die Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim. Später folgt unter anderem der Abschnitt zwischen Berlin und Hamburg. Es wird ein Kraftakt, und er wird Nerven kosten.
Bereits jetzt wird nach Lösungen für die vielen benötigten Busse gesucht. Volker Wissing lehnt sich in seinem Lederstuhl nach vorn und tippt sich an den Hals. Er sagt: "Ich vergleiche das gern mit einer Operation an der Hauptschlagader. Man muss zuerst Bypässe legen, sonst führt die Hauptoperation zum Kollaps – und das darf nicht passieren." Und wenn er mehrere Korridore gleichzeitig erneuern würde? Wissing schüttelt den Kopf: "Man kann auch nicht zwei Halsschlagadern gleichzeitig operieren."
Das sind nur die notwendigen Renovierungsarbeiten, um in Zukunft einen reibungslosen Betrieb besser gewährleisten zu können. Damit es aber künftig erst gar nicht wieder so weit kommen kann, damit die Infrastruktur nicht erneut so marode wird, will Wissing auch die Baustellen anders finanzieren. Bislang trug die Bahn selbst die Kosten für kleinere Reparaturen. Wenn es jedoch zu Totalausfällen beim Netz kam, zahlte der Bund. Bahn-Experte Mitusch, der im Beirat des Verkehrsministers sitzt, sagt: "Das ist natürlich ein falscher Anreiz für die Bahn: Lieber mit Reparaturen abwarten, bis etwas ganz kaputtgeht, denn dann zahlt es der Bund und nicht der Konzern selbst." Wissing selbst nennt das heute einen "Webfehler".
Er führte Dutzende Gespräche. Sein Vorschlag: Der Bund soll in Zukunft auch zur Instandhaltung des Netzes zusätzlich Geld zur Verfügung stellen können. Anfang Juni hat die Koalition das beschlossen. Es ist eine Novelle des etwas sperrig klingenden Bundesschienenwegeausbaugesetzes. Abwarten, bis alles kaputt ist – damit soll Schluss sein.
Beenden will Wissing auch den Zustand, dass die Bahn am Netz verdient, die Gewinne aber nicht reinvestieren muss. Künftig soll das Schienennetz deshalb in einer gemeinwohlorientierten Gesellschaft gebündelt sein. Die Erträge sollen wieder in die Infrastruktur fließen. Die neue Gesellschaft soll laut Wissing so aufgestellt werden, "dass sie einen Anreiz hat, die Schienen kontinuierlich in Schuss zu halten."
"Mit einer Haudrauf-Methode wird es nicht gehen"
Wenn man länger mit Volker Wissing spricht, bekommt man ein Gefühl dafür, wie die Reformen aussehen könnten, die er plant. Wie schwierig es ist, immer wieder einen Konsens zwischen allen Beteiligten zu finden. In seinem Büro sitzen kleine schwarze Möpse aus Plastik, die Hunde haben ihre Köpfe schräg gelegt. Wissing beugt sich am Tisch nach vorne und sagt: "Ich höre immer wieder: Ja, dann zerschlag' doch die Deutsche Bahn! Für mich klingt das Wort 'Zerschlagen' schon nicht nach den besten Absichten." Von einer Zerschlagung des größten Staatskonzerns hält Wissing nichts.
Kürzlich hat er sich mit den Lokführern der Gewerkschaft EVG unterhalten. Es ist eine mächtige Lobbygruppe innerhalb der Bahn, die allzu radikalen Änderungen besonders skeptisch gegenübersteht. Manche Mitglieder sind in der dritten Generation Lokführer in ihren Familien. Wissing sagt: "Mit einer Haudrauf-Methode wird es nicht gehen. Zehntausende Mitarbeiter würde man damit vor den Kopf stoßen – ich will die Bahn gemeinsam mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern reformieren, nicht gegen sie."
Ein Anruf bei Dirk Flege. Flege, häufig mit markigen Aussagen im Fernsehen zu sehen, gilt nicht als größter Freund des Verkehrsministers. Er ist Chef der "Allianz pro Schiene", einer Lobbygruppe, die sich für eine Stärkung der Bahn einsetzt. Doch selbst er räumt ein: "Ich finde das grundsätzlich richtig von Wissing, dass er niemanden überfallen will. Es stimmt schon, dass man nicht die Bahn gegen sich selbst reformieren kann. Nur braucht es eben noch klarere Pläne, wie es weitergehen soll." Beispielsweise will Flege wissen, wie genau die Arbeit der "InfraGo" aussehen soll – dafür, dass diese bereits zum 1. Januar 2024 starten soll, seien die Pläne noch unkonkret.
Der Bahn-Experte Mitusch aus Karlsruhe wertet Wissings Bemühungen als ein "erstes, vorsichtiges Zeichen, dass der Bund die Bahn wieder mehr lenken möchte." Für ihn kommt es aber auf eines an: "Wird sich Wissing trauen, der Bahn noch mehr auf die Finger zu schauen? Bislang ist der Konzern wie eine Blackbox, in die viel Geld gesteckt wird – wobei aber unklar ist, was genau mit diesem Steuergeld geschieht. So wie die Kontrolle aktuell ist, reicht sie nicht aus."
Der Balanceakt geht weiter
Wissing sieht das anders, er redet nicht von "Kontrolle". Lieber davon, dass vier Augen mehr sehen als zwei. Gemeinsam die Reform voranbringen, das ist sein Motto. Doch er sagt auch: "Ich muss am Ende das Ergebnis der Reform verantworten, deshalb sind wir im engen Austausch mit dem Vorstand." Der Balanceakt geht weiter.
Mittlerweile drückt die Nachmittagssonne durch das Fenster im Ministerium, Wissing rückt auf der Stuhlkante nach vorn. Gleich muss er zum nächsten Termin. Seine Mitarbeiter stehen schon an der Tür.
Wird das klappen: Werden die Menschen dafür Verständnis haben, dass sie in den nächsten Jahren viel mit Bussen fahren müssen, wenn gerade der Schienenkorridor, der sie betrifft, erneuert wird? Wissing sagt ruhig: "Wir können nicht an einem Tag aufarbeiten, was 20 Jahre liegen blieb. Wenn es ins Dach reinregnet, das Wasser nicht mehr abläuft und kein Strom mehr da ist – kann man nicht ernsthaft fragen, ob man morgen wieder einziehen kann." Und dann schiebt er nach: "Das dauert ein wenig, so ist es jetzt auch."
- Eigene Recherchen
- Persönliches Gespräch mit Volker Wissing
- Telefonate mit Dirk Flege und Kay Mitusch