Dauerstreit bei "Anne Will" "Der Staatssekretär ist nicht mehr zu halten"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bürgerschaftswahl in Bremen, Präsidentschaftswahl in der Türkei, Trauzeugenaffäre und Habecks Heizungsgesetz – Anne Wills Talk versuchte den Rundumschlag.
Von einem "sehr nachrichtenstarken Tag" sprach Anne Will in ihrer Anmoderation – und kündigte an, über "beide Wahlen", also die Bürgerschaftswahl in Bremen und die Präsidentschaftswahl in der Türkei, reden zu wollen. Als Klammer sollte die Frage dienen, inwieweit deren Ergebnisse die Arbeit der Bundesregierung beeinflussen könnten. Weil zum Zweikampf zwischen Recep Tayyip Erdoğan und seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu noch keine belastbaren Zahlen vorlagen, ging es zunächst um die Hansestadt an der Weser.
Die Gäste
Lars Klingbeil, SPD-Co-Vorsitzender
Ricarda Lang, Grünen-Co-Vorsitzende
Amira Mohamed Ali, Co-Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag
Mario Czaja, CDU-Generalsekretär
Robin Alexander, Stellvertretender Chefredakteur "Die Welt"
Während sowohl SPD-Chef Lars Klingbeil als auch CDU-Generalsekretär Mario Czaja in der persönlichen Popularität des SPD-Bürgermeisters Andreas Bovenschulte eine entscheidende Erklärung für den Wahlausgang sahen, wollte die Grünen-Vorsitzende Ricarda Lang lieber erst mal über einen dritten Urnengang sprechen: die für ihre Partei erfolgreicheren Kommunalwahlen in Schleswig-Holstein.
Dann aber räumte sie doch noch ein, dass die Verluste der Grünen in Bremen "enttäuschend" seien. "Es gab jetzt nicht viel Rückenwind aus Berlin", erklärte sie mit Blick auf Robert Habecks umstrittenes Heizungsgesetz und die sogenannte Trauzeugenaffäre um dessen Staatssekretär Patrick Graichen. Trotzdem sprach sie von einem "landesspezifischen Ergebnis" und beklagte eine "Verengung" auf Themen wie die von den Grünen betriebene Abschaffung der beliebten "Brötchentaste" an Parkuhren, die in Bremen kostenloses Kurzparken erlaubte.
Minister Habeck sei deutlich gestutzt worden
Journalist Robin Alexander nahm den Ball auf, verglich den Brötchentasten-Fall mit der autofreien Friedrichstraße in Berlin und bescheinigte den Grünen "eine Kultur des Eigentors". Eindeutig davon trennen wollte er jedoch Robert Habecks Heizungsgesetz, das schließlich von zentraler Bedeutung für die Gestaltung der Energiewende sei.
Angesichts des Umstands, dass neben anderen SPD-Politikern auch Andreas Bovenschulte Nachbesserungsbedarf an den Plänen reklamiert hatte, vermutete der Vizechefredakteur der "Welt", dass die SPD "nicht ganz unglücklich" darüber sei, dass der grüne Wirtschaftsminister hier wie schon zuvor bei der Gasumlage "deutlich gestutzt" worden sei.
In diesem Punkt geriet er in einen Dauerstreit mit Lars Klingbeil: Der SPD-Vorsitzende, der die Deutung zurückwies, bezeichnete es mehrfach als "normalen Prozess", dass ein Gesetzentwurf im Parlament noch verändert werde. Alexander wies darauf hin, es sei im Gegenteil "nicht normal", dass wie schon dem entsprechenden Kabinettsbeschluss der Ampelkoalition seitens der FDP eine Protokollnotiz mit Bedenken angeheftet worden sei.
Auch Linken-Politikerin fordert Graichen-Entlassung
Mario Czaja wiederum beklagte, dass die Ampelkoalition das Prinzip "Fördern und Fordern" aufgegeben habe, monierte, das Gebäudeenergiegesetz sei "handwerklich schlecht", und bewertete die Verunsicherung der Bevölkerung als "natürlich logisch". Damit fand er sich in einer seltenen Allianz mit Amira Mohamed Ali wieder.
Wie der CDU-General wies auch die Linken-Fraktionsvorsitzende auf die sozialen Implikationen der Habeckschen Heizungswende hin und kritisierte "Maßnahmen, die so rausgehauen werden", ohne dass geklärt sei, wie sie umgesetzt werden könnten und wer wie viel bezahlen müsse. Und wie Czaja („Der Staatssekretär ist nicht mehr zu halten“) forderte auch die Linken-Politikerin die Entlassung Patrick Graichens.
Einigkeit nur in Sachen Türkei
Gerade Czajas Verbalattacken kitzelten noch einmal Lars Klingbeil: Statt von "Clanstrukturen" und "krimineller Vereinigung" zu reden, "würde ich als CDU bei dem Thema echt kleine Brötchen backen", so der SPD-Chef. Da gebe es ja auch noch ein paar Fälle aus der Unions-Vergangenheit. Solche Aggressivität könne am Ende dazu beitragen, "dass Ränder gestärkt werden".
Erst in der Schlussviertelstunde wurden die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei erörtert – wobei parteiübergreifende Einigkeit zutage trat: Sowohl Lars Klingbeil, der einen "Entfremdungsprozess unter Erdoğan" diagnostizierte, als auch Ricarda Lang, Amira Mohamed Ali und Mario Czaja äußerten die Hoffnung, dass ein möglicher Machtwechsel hin zu Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu Verbesserungen bei Menschenrechten, Pressefreiheit und im Hinblick auf eine unabhängige Justiz bringen könnte.
- Eigene Beobachtung