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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wegen Putins Krieg Ex-Geheimdienstler kritisieren Olaf Scholz
Nach dem Vorbild US-amerikanischer Dienste fordern Ex-Verantwortliche deutscher Nachrichtendienste eine offensivere Öffentlichkeitsarbeit des BND. FDP und Union begrüßen den Vorschlag.
Geht es nach FDP, Union und ehemaligen deutschen Geheimdienstlern, soll der Bundesnachrichtendienst (BND) angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine künftig regelmäßig Einschätzungen zu Bedrohungslagen veröffentlichen dürfen. Damit soll die öffentliche Debatte über Sicherheitspolitik und das Vertrauen in die Dienste gestärkt werden, heißt es. Die Linke lehnt den Vorschlag ab, das Bundeskanzleramt als Fachaufsicht des BND kommentierte ihn auf Anfrage von t-online nicht.
FDP verweist auf Großbritannien
"Wenn es nach der Eskalation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine tatsächlich zu einer Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik kommen soll, dann gehört dazu auch eine informiertere öffentliche Debatte über sicherheitspolitische Fragen", sagte der FDP-Abgeordnete Konstantin Kuhle t-online. Er ist als Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums mit Abgeordneten der anderen Bundestagsfraktionen zuständig für die Kontrolle der Nachrichtendienste. "In anderen Staaten, etwa im Vereinigten Königreich, veröffentlichen die Dienste eigene Erkenntnisse beispielsweise regelmäßig über die sozialen Medien", sagte Kuhle.
Mit Blick auf das Inland seien Informationen und Warnungen des Bundesamtes für Verfassungsschutz längst Standard. "Diesem Beispiel könnte der Bundesnachrichtendienst folgen und, in enger Abstimmung mit der Bundesregierung, punktuell und in engen Grenzen bestimmte Informationen veröffentlichen." Das könne nützlich sein, um beispielsweise russische Desinformation zu bekämpfen. "Gerade angesichts des mitten in Europa stattfindenden Kriegs könnten strategische Erkenntnisse des BND der Öffentlichkeit weiterhelfen."
Union will "360-Grad-Blick" etablieren
Ähnlich sieht das CDU-Abgeordneter Roderich Kiesewetter, der wie Kuhle Mitglied des Parlamentarischen Kontrollgremiums ist. Regelmäßig zu veröffentlichende Lagebilder seien "ein sinnvolles Instrument", sagte er t-online. Die Maßnahme könne das Vertrauen in die Dienste und das Bewusstsein für sicherheitspolitische Belange in der Bevölkerung stärken. "Es würde auch dabei helfen, eine strategische Kultur in Deutschland zu entwickeln und den 360-Grad-Blick zu etablieren." Der Verfassungsschutzbericht schaue nach innen – "genauso wichtig ist es aber auch, äußere beziehungsweise vernetzte Bedrohungen, insbesondere auch hybride Kriege und Einflussnahmen ausländischer Staaten im Blick zu haben", sagte Kiesewetter.
Ins Spiel gebracht hatte die neue Maßnahme der Öffentlichkeitsarbeit der Gesprächskreis Nachrichtendienste, indem sich ehemalige deutsche Geheimdienstler und Sicherheitsforscher organisieren. "Regelmäßig, am besten in Form von Jahresberichten aufzugreifende Themen wie 'Globale Terrorismusbedrohung', 'Hybride Kriegsführung und Bedrohungen', 'Proliferation' oder eben auch 'Globale militärische Potenziale und Risiken' wären heute wichtiger denn je", heißt es dazu in einem am Mittwoch veröffentlichten Papier.
Vorschlag: "Zurückhaltung aufgeben"
Der Verein plädiert dafür, ein dem Verfassungsschutzbericht vergleichbares Medium für den Bundesnachrichtendienst zu etablieren, "mit dem auf globale Gefährdungen und Risikofaktoren hingewiesen wird, ohne dabei schutzwürdige außenpolitische Interessen oder Geheimhaltungsbelange zu berühren". Den Bedarf dafür veranschaulicht die Stellungnahme anhand des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.
So hätten die vergangenen Jahre gezeigt, dass "aus Mangel an öffentlich zugänglicher, autoritativer Information wichtige Trends und Entwicklungen in der politischen Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen worden sind, welche die Sicherheit des europäischen Kontinents und seines regionalen Umfelds unmittelbar (...) beeinflussen". Im Rahmen der sicherheitspolitischen Neuausrichtung, die von Bundeskanzler Olaf Scholz als "Zeitenwende" bezeichnet wurde, solle "diese Zurückhaltung aufgegeben werden, um Versäumnisse der vergangenen Jahre auch in diesem Feld zu überwinden".
Als beispielgebend für gelungene öffentliche Kommunikation gilt dem Gesprächskreis Nachrichtendienste dabei der in den Achtzigerjahren regelmäßig herausgegebene Bericht "Soviet Military Power". Die Broschüre der US-amerikanischen Defense Intelligence Agency (DIA) habe damals "alle wichtigen Neuerungen in Themenfeldern wie etwa Strategie, Doktrin, Stärken, neue Waffensysteme und Dislozierung" dargestellt.
Linke erwartet keinen Neuigkeitswert
"Relevante Entwicklungen in der Ausrüstung beziehungsweise Bewaffnung der sowjetischen Streitkräfte wurden herausgestellt, und ihre Implikationen für die sowjetische Strategie und Militärdoktrin erläutert", heißt es in der Stellungnahme des Vereins. Dadurch habe sich der Bericht rasch weltweit als Basismaterial und Nachschlagewerk etabliert. Ein Erfolg sei aber auch der über mehrere Jahre vom BND herausgegebene Proliferationsbericht gewesen.
Nicht überzeugt von der Notwendigkeit einer solchen Neuausrichtung der nachrichtendienstlichen Kommunikation ist André Hahn, der für die Linksfraktion im Parlamentarischen Kontrollgremium sitzt. Zwar sei mehr Transparenz grundsätzlich zu begrüßen. "Interessengeleitete Kommunikation, und um nichts anderes handelt es sich bei der Forderung nach einem öffentlichen Lagebericht des BND, wird die Glaubwürdigkeitslücke des deutschen Auslandsgeheimdienstes wohl kaum schließen können", sagte Hahn t-online. Für ihn gilt in diesem Zusammenhang das Bundesamt für Verfassungsschutz eben nicht als positives Beispiel.
"Dessen Jahresberichte werden von Laien so gut wie nicht zur Kenntnis genommen, Experten legen sie mangels Neuigkeitswert und analytischer Qualität in der Regel schnell zur Seite", sagte Hahn. "Nicht anders wäre es vermutlich im Falle des BND, zumal einige wichtige Fakten nicht durch eigenes Nachrichtendienst-Aufkommen, sondern durch Infos von anderen Nachrichtendiensten geliefert werden."
Die sogenannte "Third-Party-Rule" (zu Deutsch: Drittparteien-Regelung) verbiete dem BND, Erkenntnisse ausländischer Dienste ohne deren Zustimmung weiterzugeben und erlaube, sie sogar dem Parlament vorzuenthalten, was die Linksfraktion als rechtswidrig ansehe. "Die Veröffentlichung von regelmäßigen Lagebildern seitens des BND dürfte über die ohnehin schon stattfindende Medienberichterstattung hinaus kaum Neuigkeitswert haben." Ein Regierungssprecher schrieb zum Vorstoß auf Anfrage von t-online lediglich: "Die Bundesregierung hat den Vorschlag zur Kenntnis genommen."
- Eigene Recherchen
- Gesprächskreis Nachrichtendienste in Deutschland e.V.: "'Soviet Military Power' – Benötigen wir ein Remake? Lageberichte und Lagebeurteilungen als Öffentlichkeitsarbeit der Dienste"