Rechtsstaatsmechanismus ausgelöst EU-Kommission startet Verfahren gegen Ungarn
Der Verdacht wiegt schwer: Eine Clique um Präsident Orbán soll sich auf Kosten der EU bereichern. Nun will die Europäische Kommission die Zahlungen an Ungarn empfindlich einschränken.
Wegen Korruption und anderer Verstöße muss Ungarn mit dem Entzug milliardenschwerer EU-Hilfen rechnen: Die Europäische Kommission löste am Mittwoch in Brüssel den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus aus, der zu hohen Finanzsanktionen führen kann. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte den Schritt kurz nach der Wiederwahl des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán Anfang April angekündigt. Erleichtert reagierten Politiker im Europaparlament, das monatelang Druck gemacht hatte.
"Heute hat die EU-Kommission die formelle Benachrichtigung an Ungarn geschickt", schrieb EU-Justizkommissar Didier Reynders im Online-Dienst Twitter. Damit beginnt formell das Verfahren, das nach Angaben von EU-Beamten innerhalb von fünf bis neun Monaten zu einem Sanktionsbeschluss führen kann.
Verdacht: Orbán-Clique bereichert sich auf Kosten der EU
Brüssel wirft Ungarn unter anderem Korruption, Interessenkonflikte und massive Probleme bei der öffentlichen Auftragsvergabe und der Parteienfinanzierung vor. Dahinter steht der Verdacht, eine Clique um Orbán bereichere sich zum Schaden des gemeinsamen EU-Haushalts. Genau anschauen will sich die Kommission laut einem Beamten etwa die Vergabe landwirtschaftlicher Flächen an Orbán-Vertraute, denn damit sind hohe EU-Subventionen verbunden.
"ENDLICH!" schrieb der Europaabgeordnete Daniel Freund (Grüne) auf Twitter, der eine fraktionsübergreifende Arbeitsgruppe gegen Korruption ins Leben gerufen hat. "Bald wird es keine EU-Gelder mehr für Orbans Autokraten-Kurs geben." Auch die sozialdemokratische S&D-Fraktion im Europaparlament begrüßte den Schritt als überfällig. "Das Geld der Steuerzahler muss vor denen geschützt werden, die gegen den Rechtsstaat verstoßen und die Demokratie abbauen", schrieb die Fraktion auf Twitter.
Ungarn könnten EU-Zahlungen entgehen
Der nun aktivierte Rechtsstaatsmechanismus ist seit Anfang 2021 in Kraft. Damit können bei Verstößen gegen gemeinsame Grundwerte Zahlungen aus dem EU-Haushalt für Länder gekürzt oder Mittel aus den Strukturfonds eingefroren werden. Nötig ist am Ende ein Beschluss von mindestens 15 EU-Staaten, die für 65 Prozent der Bevölkerung stehen.
Ungarn habe sich "mehr als zehn Jahre lang geweigert", die Empfehlungen aus Brüssel umzusetzen und in den Korruptionsfällen zu ermitteln, sagte ein EU-Beamter. Der genaue Umfang der möglichen Finanzsanktionen steht noch nicht fest. Am Ende des mehrstufigen Verfahrens kann die Kommission den Mitgliedsländern einen Vorschlag zur Streichung von Haushaltsmitteln für Ungarn machen. Eingefroren sind in dem Streit bereits Hilfen für das Land in Höhe von gut sieben Milliarden Euro aus dem Corona-Aufbaufonds.
Auch Polen im Fokus
Ungarn und Polen hatten gegen den Rechtsstaatsmechanismus vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) geklagt, die Richter wiesen die Klagen jedoch im Februar ab. Ob und wann die Kommission gegen Polen vorgeht, ist noch offen.
Mit Warschau streitet Brüssel vor allem über die Justizreform. Die EU-Kommission wirft Polen die Einsetzung von Richtern bis hin zum Verfassungsgericht vor, die den nationalkonservativen Kurs der Regierung stützen. Ungarn wie Polen sind daneben auch wegen Verstößen gegen die Pressefreiheit und gegen Minderheiten im Visier der Kommission.
De facto im Sande verlaufen ist ein anderes Strafverfahren gegen Ungarn und Polen nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Es kann zwar theoretisch bis zum Entzug von Stimmrechten führen, beide Länder unterstützten sich aber gegenseitig.
- Nachrichtenagentur AFP