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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Proteste "Die Menschen berauschen sich an diesem Gefühl"
Corona kann gehen, die "Querdenker" aber werden bleiben, warnt ein Experte für Rechtsextremismus. Warum die Behörden machtlos sind, die Zivilgesellschaft zu leise bleibt und sich die Szene längst radikalisiert hat.
Die Corona-Maßnahmen sind derzeit weit gelockert, die Impfkampagne schreitet voran – Freiheit und Normalität liegen in der Luft wie selten in den vergangenen anderthalb Jahren. Dennoch gehen die "Querdenker" weiter auf die Straße. Am Wochenende waren es Tausende, die ohne Maske, ohne Abstand und trotz Demonstrationsverbots durch die Hauptstadt zogen.
Sie werden es auch ohne Corona nicht bleiben lassen, warnt Mathias Wörsching. Der Historiker und Politologe arbeitet für die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus in Berlin. Seit Beginn der Proteste laufen er und seine Kollegen bei den Demonstrationen mit, beobachten, hören zu, analysieren. Ein Gespräch über das Gefühl, auserwählt zu sein, die tiefe Abneigung gegen den Staat und die Machtlosigkeit der Behörden.
t-online: Geschätzt 5.000 Menschen haben am Wochenende in Berlin demonstriert. Sie waren vor Ort. Wie war die Stimmung?
Mathias Wörsching: Die Stimmung schwankte von volksfestartig bis hoch aggressiv. Die Menschen haben sich sehr stark gegenseitig bestätigt, bis in Rausch und Größenwahn hinein. Zugleich ist das Gewaltpotenzial kontinuierlich hoch bei diesen Protesten. Es gab Übergriffe auf Polizisten und Journalisten sowie Pöbeleien gegenüber Anwohnenden, kritischen Passanten und Gegendemonstranten.
Die Demonstrationen waren aus Gründen des Infektionsschutzes dieses Mal von vornherein verboten. Wer geht unter diesen Umständen noch auf die Straße?
Insgesamt ein augenscheinlich eher bürgerliches Spektrum. Da waren vor allem Menschen jenseits der 45 unterwegs, zum Teil waren sie sehr weit angereist. Vereinzelt sah man Rechtsextreme und ihre Symbole, aber im Vergleich zur großen Demonstration im August 2020, bei der es zur Besetzung der Reichstagstreppen kam, waren sie deutlich weniger präsent.
Wie lässt sich erklären, dass da trotz Versammlungsverbots nicht deutlich mehr Extremisten, sondern weiterhin Menschen aus der Mitte der Gesellschaft stehen?
Das ist eine Kontinuität dieser Proteste, von Beginn an. Eine diffuse Protesthaltung gegen "Die da oben", gegen den Staat, mit ganz starken verschwörungsideologischen, teils antisemitischen Anteilen. Diese Haltung muss sich nicht in Bannern und Fahnen ausdrücken, sie ist bereits seit mehr als einem Jahr inhaltlicher Kern dieser Corona-Proteste. Ein Teil des Spektrums hat sich in den vergangenen Monaten noch weiter verhärtet und radikalisiert.
Was sind die Themen, die diese Menschen jetzt umtreiben?
Zum einen Zukunftsängste. Nachdem die Maßnahmen gelockert wurden, ist das Impfen das große Schreckgespenst und Thema bei sehr vielen Gesprächen. Man erwartet Tausende Tote und den Zusammenbruch der Gesellschaft. Zum anderen inszeniert man sich als Widerstand gegen einen vermeintlich neuen Faschismus. Linke Gegendemonstrierende werden niedergebrüllt mit "Nazis raus"-Rufen, auch in der Polizei und der Regierung vermutet man Nazis, man selbst aber steht im Widerstand. Das bedeutet eine unsägliche Verharmlosung des Faschismus und der NS-Geschichte.
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Wie können diese Umkehrungen auf Dauer funktionieren?
Man bestätigt sich in unendlichen Schleifen permanent gegenseitig, dass man erleuchtet ist, erweckt ist, dass man auserwählt ist. Kurzum: Dass man selbst wahnsinnig schlau und der Rest der Bevölkerung wahnsinnig dumm ist. An diesem Gefühl berauschen sich die Menschen, besonders bei den Demonstrationen.
Wie anfällig ist die Bevölkerung in Deutschland insgesamt für solches Gedankengut?
Der Berlin-Monitor, eine repräsentative Befragung, hat 2019 bei etwa einem Drittel der Befragten eine "Verschwörungsmentalität" festgestellt. Das hat sich in der Corona-Krise manifestiert und wurde von entsprechenden Akteuren – ich nenne sie "Bewegungsunternehmer" – gezielt genutzt. Diese Unternehmer hatten zum Teil schon vorher Verbindungen zu Rechtsextremen und haben mit professionellen Marketingmethoden Profit daraus geschlagen. Michael Ballweg, der Kopf von "Querdenken", oder Prominente wie Xavier Naidoo und Michael Wendler sind nur Beispiele für dieses Erfolgsmodell.
Ballweg und Co. profitieren durch enorme Spenden oder Tausende Klicks. Wie profitieren die Teilnehmer auf der Straße?
Es ist oft der Griff nach dem Strohhalm. Ein Versuch, das Gefühl von Kontrolle wieder zurückzugewinnen. Viele wollen einen Sündenbock, das ist das eine. Sie können hier eine komplexe gesellschaftliche Krise mit personalisierten Schuldzuweisungen verbinden. Unsere Kollegen von der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus in Berlin haben leider auch an diesem Wochenende wieder antisemitische Vorfälle dokumentiert, die in Verbindung mit den Demos zu stehen scheinen – zum Beispiel Postkarten, die ausgelegt wurden, mit Relativierungen des Holocausts und dem Spruch "Impfen macht frei". Zum anderen geht es um das Gemeinschaftsgefühl, das durch die harte Abgrenzung nach außen erzeugt wird – gegen den Mainstream, die angebliche Verschwörung samt "Lügenpresse", Staat und Polizei.
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Waren die Demonstranten vorher schon in anderen Bewegungen unterwegs?
Die Menge ist sehr divers. Viele aber scheinen vor Corona nicht stabil in andere Protestmilieus eingebunden gewesen zu sein. Auf Demos ist der Einsatz von polizeilichen Zwangsmaßnahmen zum Beispiel immer wieder zu beobachten, auch bei rechtsextremen Versammlungen. Für erfahrene Demonstranten ist es also keine Überraschung, wenn die Polizei durchgreift. Viele "Querdenker" fallen dann aber aus allen Wolken. Die wissen bestimmte Beobachtungen gar nicht einzuordnen – und finden die abstrusesten Erklärungen.
Das von der Versammlungsbehörde ausgesprochene Demonstrationsverbot ist umstritten – auch, weil es für die Polizei schwer umsetzbar ist. Mehr als 600 Menschen wurden am Wochenende festgenommen. Ist die Strategie der Behörden aufgegangen?
Zumindest in einem bestimmten Kernbereich rund um das Regierungsviertel wurde recht konsequent gegen verbotene Versammlungen vorgegangen. In der westlichen Innenstadt gelang es der Polizei allerdings nicht, selbst größere Aufzüge mit Hunderten Teilnehmenden zu unterbinden. Das ist sicherlich ein zentrales Erfolgserlebnis, das viele Teilnehmende mit nach Hause nehmen werden.
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Seit April stehen Teile der "Querdenken"-Bewegung unter Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Die SPD fordert nun eine Verschärfung der Maßnahmen und die Prüfung eines Verbots.
Alles, was diese Bewegung eindämmt, ist erst einmal eine Erwägung wert. Ich habe aber immer wieder den Eindruck, dass die Verantwortung für die Gegenrede an staatliche Organe delegiert wird. Doch die sind immer nur so gut wie die Zivilgesellschaft dahinter. Die muss selbst wachsam sein, laut werden und friedlich gegen solche Tendenzen auf die Straße gehen.
Passiert das?
Der zivilgesellschaftliche Protest ist leider sehr gering ausgeprägt. Ein größerer Teil der Bevölkerung müsste auf der Straße hörbar widersprechen, um dieser verschwörungsideologischen Bewegung tatsächlich etwas entgegenzusetzen. Um ihr wirksam das Gefühl zu nehmen, dass sie die Stimme des Volkes ist.
Die Zahl der Demonstranten ist im Vergleich zum letzten Jahr stark gesunken – von grob von der Polizei geschätzten 20.000 auf rund 5.000. Erledigt sich die Bewegung nicht selbst, je mehr Corona-Auflagen aufgehoben werden?
Die Netzwerke werden aktiv bleiben. Ein Lockdown im Herbst oder ganz neue Krisenlagen werden wieder zu einer vergleichbaren Protestmobilisierung führen. Durch Corona sind die Resonanzräume für verschwörungsideologisches Gedankengut in hohem Maße erweitert worden. Diese Dynamik ist aus demokratischer Sicht sehr, sehr besorgniserregend.
Sind die Menschen, die dort protestieren, denn noch mit Argumenten zu erreichen?
Wer trotz Verbots und anhaltender gesellschaftlicher Debatte zu diesen Versammlungen geht, der hat schon viele Richtungsentscheidungen getroffen. Es ist schwierig, diese Menschen zurückzugewinnen. Nichtsdestoweniger ist es auch hier sinnvoll, zu differenzieren: Wer gehört zum ideologisch gefestigten Kern, wer ist vielleicht noch mit Argumenten erreichbar? Insbesondere bei Menschen am Rand der Protestszene kann eine ergebnisoffene Diskussion noch möglich sein.
- Interview mit Mathias Wörsching