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Rassismus: Auch anti-Weißer Hass ist ein Problem


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Opferkonkurrenz
Auch anti-Weißer Hass ist ein Problem

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 03.06.2021Lesedauer: 7 Min.
Auch Abwertung von Weißen ist im Alltag in Deutschland ein Problem, meint Kolumnistin Lamya Kaddor.Vergrößern des Bildes
Auch Abwertung von Weißen ist im Alltag in Deutschland ein Problem, meint Kolumnistin Lamya Kaddor. (Quelle: Addictive Stock/imago-images-bilder)

Geht es um Rassismus, reden wir meist über Menschen wie den Nationalspieler Antonio Rüdiger – zu Recht! Es gibt aber auch anti-Weiße Attacken. Manche sprechen hier sogar vom "Rassismus gegen Weiße". Eine gefährliche Entwicklung.

"Ey, du Alman, verzieh dich." Als Lehrerin habe ich immer wieder erleben müssen, wie Kinder niedergemacht und gemobbt wurden, nur weil Mitschüler sie als Weiß gelesen haben. Sie wurden ausgegrenzt und verunglimpft als "Kartoffel", "Kafir" beziehungsweise "Gavur" ("Ungläubige"), als "Schlampe" oder "Hure". Selbst unverklausuliert wird eine Ansprache wie "Du Deutscher" bisweilen als Beleidigung genutzt. Bei gebildeteren Schülerinnen und Schülern erfolgt der "Diss" auch mal subtiler, dann ist von "Herrenmensch" oder "Herrenrasse" die Rede. Meist geschehen solche Anfeindungen in Schulpausen, manchmal in der Klasse.

An Schulen mit größerem oder mehrheitlichem Anteil an Schülern mit internationaler Familiengeschichte ist das Problem relevanter. Zudem erscheint die Häufigkeit des Auftretens mit der Schulform zusammenzuhängen: An der Haupt- und Sekundarschule habe ich es selbst öfters erlebt, aktuell an meinem Gymnasium bisher nicht. Lehrerinnen und Lehrer müssen bei solchen Vorfällen sofort intervenieren. Es darf dabei null Toleranz geben. Jedes Schimpfwort ist eines zu viel – und sei es "lustig" gemeint.

Ausgrenzung von Weißen auch im Alltag

Die Abwertung von Weißen in Deutschland beschränkt sich selbstverständlich nicht auf Schulen. Sie findet ebenso im Alltag von Erwachsenen statt: Weißen Senioren wird mit Vorurteilen begegnet, Weiße Arbeitskolleginnen und -kollegen werden ausgegrenzt, Weiße Passanten schräg von der Seite angemacht. Manchmal kommt es zu brutalen Attacken, nur weil Schlägerinnen und Schläger jemanden als Weiß ausgemacht haben. Am Ende können dann Vergewaltigungen, Totschlag und Mord stehen. (Warum ich "Weiß" immer groß und damit grammatisch falsch schreibe? Weil es bei dem Wort natürlich nicht wirklich um Hautfarbe geht, sondern um Zuschreibungen durch andere.)

Es gibt anti-Weiße Hassverbrechen in Deutschland und Weiße Deutsche werden zu Opfern. Was leider nach einem Allgemeinplatz klingt, sollte dennoch dann und wann explizit benannt werden, weil Weiße Menschen das Gefühl haben, mit ihren Sorgen von der Gesellschaft nicht ernst genommen zu werden. Weiße Menschen sind keine Opfer zweiter Klasse. Ihr persönlicher Schmerz ist nicht geringer als der anderer.

Rechtsextremisten missbrauchen anti-Weiße Attacken

Selbstverständlich ist es unser aller Aufgabe, sie ebenso zu schützen.
Anti-Weiße Anfeindungen stehen jedoch oftmals weniger im Zentrum von Debatten über Diskriminierung und Ausgrenzung. Die Gründe dafür sind verschieden. Es liegt zum Beispiel an den Rechtsextremisten. Sie übertreiben anti-Weiße Vorfälle in ihren Ausmaßen und Wirkungen und missbrauchen sie als Aufruf zum Hass auf Menschen mit Zuwanderungsgeschichte. Weil es so schwierig ist, sich von diesen rechtsradikalen Stimmen abzugrenzen, schweigen viele in der Öffentlichkeit lieber. Rechte sind halt kontraproduktiv. Sie eignen sich nicht als Schutzpatrone.

Darüber hinaus liegt die geringere Aufmerksamkeit für das Thema an qualitativen Unterschieden im Vergleich zu anderen Opfergruppen.
Antonio Rüdiger kommt aus Berlin-Neukölln. Neuerdings ist er einer der erfolgreichsten deutschen Fußballer als frisch gebackener Champions-League-Sieger vom FC Chelsea. In wenigen Tagen dürfte er bei der Europameisterschaft für unsere Nationalmannschaft auflaufen. "Ich wurde hier geboren", schrieb der Verteidiger mit sierra-leonischer Familiengeschichte jetzt für "The Players' Tribune", "aber für einige Deutsche werde ich nie ein Deutscher sein."

Zu dieser Befürchtung gelangte Antonio Rüdiger, wie er weiter ausführte, bereits in seiner Kindheit. Er wollte damals einer fremden Frau, "sie war wie meine Oma", helfen, ihre schweren Einkaufstüten nach Hause zu tragen. Sie jedoch wies den Schwarzen Jungen verängstigt ab: "Es war nur ein Moment. Aber Du kannst ihn nicht zurückdrehen. Die Unschuld – sie ist weg." Antonio Rüdiger löste mit seinem Statement vielfach Betrübnis aus und zahlreiche Medien griffen seine Schilderungen auf. Heute, gut zwei Jahrzehnte und viele schlimme Erfahrungen im Profifußball später, zieht er in seinem Text das deprimierende Fazit, trotz aller Empörung über Rassismus, trotz aller Social-Media-Kampagnen: "Nichts ändert sich jemals wirklich."

Reaktion: "Heulsuse"

Als wollten sie ihn bestätigen, fiel ein Teil der Reaktionen auf Antonio Rüdigers "Seelen-Striptease" in bösartiger Weise abwertend aus. "Heulsuse", "Weichei", hieß es. "Ach, ausgerechnet der begibt sich in die Opferrolle." "Ach, der Rüdiger hat doch selbst mal auf Instagram was Islamistisches gelikt." "Ach, der verdient Millionen und jammert rum." "Und übrigens: es gibt auch Rassismus gegen Weiße." So weit, so üblich. Leider. Sobald eine Person Mitgefühl in den Raum stellt, werden – im Schutz der Anonymität freilich – Stimmen laut, die ihre Schilderungen relativieren und sie herabsetzen. Das hat weitere böse Folgen.

Bei Menschen, die nicht rassistisch sind, könnten solch gnadenlose Reaktionen durch ein Gefühl des Ertapptseins motiviert sein, weil sie tatsächlich glauben, und sei es nur ein bisschen, ein Schwarzer Deutscher könne eben kein "richtiger" Deutscher sein. Ein weiteres Motiv ist vielleicht die Hilflosigkeit angesichts der frustrierenden Tatsache, dass Rassismus trotz der verheerenden Geschichte selbst in Deutschland immer noch virulent ist. Den "üblichen" Opfern von Rassismus zuzurufen: "Ihr seid nicht besser!", kann da eine Entlastungsfunktion einnehmen.

In jedem Fall kommen viele der gefühllosen Äußerungen gegenüber Antonio Rüdiger von Menschen, die sich an anderen Stellen besonders lautstark über anti-Weiße Anfeindungen oder eben über "Rassismus gegen Weiße" beklagen.

"Umgekehrter Rassismus"

So schlimm anti-Weiße Attacken von deutschen BPoCs (Black Indigenous People of Color – Schwarzen Menschen sowie solchen, die nicht als Weiß wahrgenommen werden und von Rassismus betroffen sind) für Betroffene und deren persönliches Umfeld sind, nach klassischem Verständnis kann es sich dabei nicht um "Rassismus gegen Weiße" oder um "umgekehrten Rassismus" handeln.

Rassismus ist eine Vorstellung, die einst zur systematischen Deklassierung nicht-Weißer Menschengruppen und darüber zur Legitimation eigener Vorherrschaft konstruiert wurde. Die Vorstellung von menschlichen "Rassen" ist eine europäische Erfindung im Zuge des Kolonialismus, wie etwa der Schweizer Historiker Christian Koller ausführt, die später pseudowissenschaftlich zum Beispiel von den Nationalsozialisten zu untermauern versucht wurde.

Der klassische Rassismus hat folglich eminente historische Dimensionen. Über die Zeit konnte er sich strukturell in Staaten und Gesellschaften verankern und wirkt dort bis heute abgeschwächt fort.

Machtverhältnisse haben noch immer Schlagseite

Das trifft auf Weiße so nicht zu. Historisch gesehen wurden Weiße Menschen beispielsweise nicht ansatzweise in ähnlichen Dimensionen versklavt und kolonialisiert. Gegenwärtig haben die globalen Machtverhältnisse nach wie vor eine ziemliche Schlagseite – trotz des Aufstiegs Chinas, Indiens oder Brasiliens. Die wohlhabendsten Länder der Erde, die weltweiten Schaltstellen der Macht, die Zentralen multinationaler Konzerne sind in der Regel Weiß dominiert.

Auf regionaler Ebene sieht es kaum anders aus. Selbst an deutschen Schulen mit 90 und mehr Prozent Schülern, die über eine internationale Familiengeschichte verfügen, sind die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Rektorinnen und Rektoren in der Regel Weiß. Selbst in hochgradig diversen Stadtteilen wie Berlin-Neukölln oder Duisburg-Hochfeld haben Weiße das Sagen: Weiße Bezirksbürgermeisterinnen und -bürgermeister, Weiße Amtsleiterinnen und -leiter, Weiße Polizistinnen und Polizisten.

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Manche riefen Antonio Rüdiger zu, er solle sich nicht so viel aus den "paar Idioten" machen, die ihm das Deutschsein absprechen würden. Doch jeder einzelne Stachel, den diese "paar Idioten" setzen, sitzt tief, denn jeder Stachel stimuliert die bange Frage: Wie viele denken noch so oder ähnlich und trauen sich bloß nicht, offen zu sprechen? Vielleicht sind es viel mehr? Genau lässt sich das kaum sagen. Die vorliegenden Studien dazu lassen aufgrund der bekannten disziplinären Herausforderungen im Forschungsdesign meist Zweifel zu.

Es fehlt an Sensibilität

An die bange Frage schließt sich nahtlos die unbehagliche Erkenntnis an: Wegen der strukturellen Gegebenheiten in Deutschland ist man bei rassistischen Vorfällen höchstwahrscheinlich auf den Goodwill von Weißen angewiesen: der Weißen Beamtin, des Weißen Supermarktleiters, der Weißen Firmenchefin, des Weißen Journalisten, der Weißen Vermieterin etc. Und womöglich sind sie ebenfalls vorurteilsbehaftet oder es fehlt ihnen die Sensibilität für klassischen Rassismus …?

Man sollte daher nicht nur von ein "paar Idioten" sprechen. Mit ihren Sticheleien gelingt es ihnen, für Verunsicherung zu sorgen. Um dem zu widerstehen, müssen BPoCs viel Aufwand betreiben und sich beispielsweise ein dickes Fell zulegen, damit die Stiche weniger schmerzen; das jedoch übersteigt die Kräfte mancher.

Wer als BPoC Opfer von Rassismus wird, wird durch diese strukturellen Verhältnisse zusätzlich belastet. Die Zusatzlast trifft BPoCs darüber hinaus noch als Minderheit – und Minderheiten sind per se schwächer und verletzlicher. Die meisten Hassverbrechen werden von Rechten verübt. Die Rede von "Rassismus gegen Weiße" in Deutschland ist nicht nur falsch, sie ist verharmlosend.

Qualitative Unterschiede deutlich sichtbar

Qualitative Unterschiede zu Anfeindungen anderer Menschengruppen sind offenkundig. Daraus folgt jedoch nicht automatisch eine Abwertung des persönlichen Leids oder der persönlichen Sorgen von Weißen Menschen. Wie gesagt, wer anti-Weißen Hass erfährt, ist kein Opfer zweiter Klasse. Darauf zu achten und das deutlich zu machen, ist Aufgabe aller, die sich für ein friedliches Miteinander einsetzen. Wenn es um Menschenrechtsfragen geht, ist Opferkonkurrenz grundsätzlich deplatziert und schädlich.

Der klassische Rassismus allerdings stellt durch die historischen und strukturellen Aspekte eine größere Herausforderung für die deutsche Gesellschaft dar. Die Strukturen setzen BPoCs im Allgemeinen deutlich stärker Gefahren und Benachteiligungen aus als Weiße. Selbst misstrauische Blicke können BPoCs fast an allen Orten treffen, Weiße Menschen hingegen nur an bestimmten. Weil dies in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend übersehen, um nicht zu sagen, ignoriert wurde, müssen wir heute für den Kampf gegen klassischen Rassismus größeren Aufwand betreiben. Das ist eine einfache Rechnung. Wir dürfen nur die Gefahren für Weiße Menschen dabei nicht übersehen.

Friedliches Miteinander? Das wäre der erste Schritt

Um für alle Bürgerinnen und Bürger ein friedliches und sicheres Zusammenleben zu organisieren, wäre ein erster Schritt für jeden von uns, die Leiderfahrungen anderer anzuerkennen, ohne sie sogleich zu relativieren und gegen anderes Leid aufzurechnen – ob sie nun von Antonio Rüdiger kommen oder einem Weißen Schüler. Im Mittelpunkt sollte der Mensch stehen, nicht die Eigenschaften, die ihm zugeschrieben werden.

Daher geht es bei der Sensibilisierung für die Thematik auch nicht darum, diejenigen zu überzeugen, die einem Schwarzen Deutschen gehässige Sprüche zurufen wie: "Eine Kuh, die im Pferdestall geboren wird, wird dadurch noch lange kein Pferd", oder einem Weißen Deutschen: "Ihr seid eh alle Rassisten und Nazis." Diese Leute wird es immer geben, und solange sie nicht gegen Gesetze verstoßen, müssen wir sie dulden. Allerdings nicht ohne ihnen laut zu widersprechen! Ob es um Weiße Menschen, Schwarze Menschen, PoCs oder andere Gruppen geht.

Mehr Kolumnen von Lamya Kaddor lesen Sie hier.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal-Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen und ist Kandidatin der Grünen für den Bundestag. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen.

Verwendete Quellen
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