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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Intensivmediziner bei "Markus Lanz" "Jeder dritte Intensivpatient stirbt"
4.700 Intensivpatienten klingt nicht dramatisch? Für den Mediziner Stefan Kluge sind das fast 1.600 sichere Covid-Tote: "35 Prozent werden sterben." Er warnt bei Lanz vor einem fast schon sicheren kompletten Lockdown.
Die Gäste
- Stefan Kluge, Intensivmediziner
- Katja Leikert (CDU), stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion
- Sahra Wagenknecht, Linken-Politikerin
- Peter Ramsauer, ehemaliger CSU-Vize
- Markus Feldenkirchen, "Spiegel"-Journalist
Bei "Markus Lanz" waren am Donnerstag die Prioritäten verrutscht. An Tag drei nach dem Showdown der möglichen Unions-Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) und Markus Söder (CSU) wollte der grunderregte Moderator immer noch wissen: Wie konnte es bloß dazu kommen? 45 Minuten widmete er dem Thema. Blieben 15 Minuten für Sahra Wagenknecht, um ihr neues Buch vorzustellen und weitere 15 Minuten, um den Ernst der Corona-Lage zu diskutieren. Stefan Kluge, Direktor der Klinik für Intensivmedizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, nutzte seine knappe Redezeit für einen Weckruf an die Politik und an unbedarfte Corona-Regelbrecher: Wenn ihr so weitermacht, ist der knallharte Lockdown nur eine Frage der Zeit, Sommer hin oder her.
Rund 4.700 Menschen werden aktuell wegen einer Covid-19-Infektion auf deutschen Intensivstationen behandelt. Kluge füllte diese für Laien wenig greifbare Zahl mit Bedeutung. "35 Prozent werden hundertprozentig sterben", stellte der Mediziner klar. Und hier seien nicht "nur" wie in früheren Corona-Zeiten alte Patienten betroffen: "Das sind jüngere Menschen, die sterben. Altersschnitt bei uns sind 56 Jahre." Für die überlebenden zwei Drittel der Intensivpatienten ist die Erkrankung laut Kluge zudem fast immer mit Langzeitfolgen verbunden, Stichwort "Long Covid". Mehr als die Hälfte habe sechs Monate nach der Entlassung immer noch Symptome.
Mediziner fordern Ausgangssperren
Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hatte zuvor bei "Maybrit Illner" ebenfalls fast schon gefleht: "Hier sterben Leute wenige Wochen vor der Impfung. Das ist wirklich absurd. Da kommt es auf jeden Tag an." Deshalb müssten trotz möglicher rechtlicher Bedenken Ausgangssperren gewagt werden – wenn nicht ab 21 Uhr, dann wenigstens ab 22 Uhr. Lauterbach nimmt alles, was er kriegen kann: "Wir müssen wirklich so schnell arbeiten mit dem, was möglich ist." Ähnlich sah das Kluge. "Es ist klar, dass die Ausgangssperre was bringt", sagte er. Zwar seien Ansteckungen im Freien seltener. Haupteffekt von Ausgangssperren sei jedoch, dass Mobilität reduziert wird. Sprich: Leute sind weniger in Bussen und Bahnen unterwegs und treffen sich auch nicht so leicht in größeren Gruppen in Wohnungen.
"Die privaten Kontakte sind der Haupttreiber", sagte der Hamburger Mediziner. Da würden sich trotz der Verbote sechs Leute zum Abendessen treffen, sich vorher testen und dann sei doch ein falscher Negativbefund darunter und einer stecke alle anderen an. "Die Leute unterschätzen die britische Variante. Die Leute verstehen es nicht. Sie sehen ja, dass sich auch Prominente infizieren", sagte er vielleicht mit Blick auf Günther Jauch und die Mannschaft von Hertha BSC.
"Da platzt einem der Kragen, wenn sich die Politik nicht langsam auf einheitliche Regeln für Deutschland einigen kann", machte Kluge seiner Frustration Luft. Langsam könne es als sicher gelten, dass die dritte Welle schlimmer wird als die zweite. Die Folgen könnten für jeden einzelnen Bürger verheerend werden. "Wenn das wirklich exponentiell weitergeht nächste Woche, dann wird irgendwann der komplette Lockdown, den wir alle nicht haben wollen, alternativlos sein", warnte der Intensivmediziner. Bundesweit geschlossene Schulen und Geschäfte müsse man vermeiden. "Aber ich fürchte, wenn man den Kolleginnen und Kollegen glaubt, die die Rechenmodelle machen, dass es fast zu spät ist. Weil wir seit vier Wochen nichts richtig tun."
Wagenknecht: Laschet und Söder haben sich disqualifiziert
Dass nichts passiert, dafür machte Wagenknecht zumindest in der Union den Machtkampf zwischen den beiden Parteichefs verantwortlich. Seit Monaten sei deren Corona-Politik nicht darauf ausgerichtet, Probleme zu lösen, sondern darauf, möglichst gut dazustehen, lautete der Vorwurf der Linken-Politikerin. Im Grunde hätten sich Laschet und Söder durch das unwürdige und planlose Gerangel der vergangenen Wochen als mögliche Bundeskanzler buchstäblich disqualifiziert. "So löst man keine Probleme", meinte Wagenknecht. "Es ist eigentlich eine Zumutung für die Bürger im Land."
"Spiegel"-Journalist Markus Feldenkirchen attestierte Söder "einen Hauch von Trumpismus". Er spielte damit darauf an, dass der Bayer zunächst signalisiert hatte, sich dem Votum der großen Schwesterpartei in der Kanzlerkandidatenfrage anzuschließen, genau das dann nicht getan hatte und stattdessen die Meinung der Abgeordneten hören wollte. Katja Leikert, stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, war im Studio immer und immer wieder Lanz' Nachfragen zu der denkwürdigen Sitzung mit Laschet und Söder ausgewichen, bis der Moderator fast schon ausfällig wurde: "Frau Leikert, warum antworten Sie nicht. Was ist das Problem? Ich hab eine simple Frage gestellt." Dann aber sagte die Christdemokratin doch etwas, was ihm gefiel.
"Die CSU muss sich die Frage gefallen lassen, inwiefern Ansagen oder Gremien infrage gestellt werden, Prozesse delegitimiert werden. Das ist problematisch", knüpfte sie an Feldenkirchens Trump-Vergleich an. Sie warf Söder – ohne dessen Namen zu nennen – gefährliches Zündeln an der Basis der Demokratie vor. "Wenn wir anfangen, die Spielregeln zu ändern, während wir auf dem Spielfeld stehen, dann entsteht eine Situation, in der jegliche Form von Legitimation übermorgen über den Haufen geworfen werden kann."
CSU-Urgestein Peter Ramsauer fand den von Söder erzwungenen Showdown in der Fraktionssitzung zwar im Grunde für die Meinungsbildung unter den Abgeordneten überflüssig. Er verteidigte jedoch den Schachzug seines Parteichefs und dessen Generalsekretärs Markus Blume. "Wenn die CDU als Partei einheitlich auftreten könnte, dann würde es anders aussehen", sagte Ramsauer. So aber habe die Schwäche der Gegenseite geradezu genutzt werden müssen. "Für Markus Söder und Blume war es ein Elfmeterschießen ohne gegnerischen Torwart", meinte Ramsauer. Offenbar auch ohne Schiedsrichter, um bei der Symbolik zu bleiben. Denn der CSU-Abgeordnete fügte noch hinzu: "Interessant war auch die Rolle von Angela Merkel, die ja stumm da saß, die in keiner Weise eingegriffen hat."
- "Markus Lanz" vom 15. April 2021