Talk bei "Markus Lanz" "Corona-Leugner arbeiten selten auf Intensivstationen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Precht warnt bei "Markus Lanz" vor dem Zerfall des deutschen Gemeinwesens. Der Philosoph nimmt die Bürger in die Staatspflicht – nach dem Motto: Frage nicht, was der Staat für dich, sondern was du für den Staat tun kannst.
Die Gäste
- Andreas Bovenschulte (SPD), Bremer Bürgermeister
- Thorsten Lehr, Pharmazeut von der Universität des Saarlandes
- Richard David Precht, Philosoph und Autor
- Eva Quadbeck, Journalistin vom "RedaktionsNetzwerk Deutschland"
- Gerald Knaus, Soziologe von der Denkfabrik "European Stability Initiative"
In Deutschland macht sich Hoffnungslosigkeit breit. Bürger verlieren das Vertrauen in Kompetenz und Anstand der Politiker, Politiker verlieren das Vertrauen in die Vernunft der Bürger. Und wenn der Paketbote einen auslacht, wenn man mit Maske die Wohnungstür öffnet – ach, was will man sich da noch drüber aufregen. Bei "Markus Lanz" schwebte am Donnerstagabend irgendwie Jean-Jacques Rousseaus Theorie vom Gesellschaftsvertrag durchs Studio. Die Runde diskutierte im Grunde die immer selben Fragen: Was hält eine Demokratie aus Volk und Volksvertretern zusammen, welche Freiheiten werden für welche Leistungen aufgeben, welche Verantwortung trägt der Einzelne fürs große Ganze?
Das Oster-Debakel hat auch bei Unterstützern der Bundesregierung den unguten Inkompetenz-Verdacht gestärkt: Wissen die überhaupt, was die da machen? Bremens Bürgermeister Andreas Bovenschulte (SPD) konnte da leider nicht beruhigen. "Es wurde plausibel argumentiert, dass es etwas bringt", sagte er zum Vorschlag aus dem Kanzleramt, von Gründonnerstag bis Ostermontag das öffentliche Leben herunterzufahren. Es seien zwar viele praktische Fragen in der Nachtsitzung offengeblieben. Am Ende aber käme aus allen 16 Bundesländern das Okay. Der simple Gedankengang dahinter laut Bovenschulte: "Da denkt man, na ja, das lohnt sich, sich darauf einzulassen."
Macht und Machterhalt
Als Bürger mag man sich gar nicht ausmalen, was an weniger offensichtlich schlechten Entscheidungen in den vergangenen Monaten alles durchgerutscht sein könnte. "Dass das das Vertrauen in die Politik nicht gerade erhöht, weiß man", räumte Bovenschulte ein. FDP-Chef Christian Lindner war sich neben Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch natürlich nicht zu schade, in dieser Situation von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Vertrauensfrage im Bundestag zu fordern. Merkel hat auf diese Machtdemonstration verzichtet – im Gegensatz zu Lindner, der sich nach dem ehrenrührigen Debakel der Liberalen bei der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen 2020 per Blitz-Vertrauensfrage seinen Posten gesichert hatte.
Philosoph Richard David Precht schmetterte bei Lanz die Grundsatzkritik von FDP und Grünen an der Strategie der Regierung ab. "In der Corona-Frage kann man gar nicht anders als auf Sicht fahren. Das Ergebnis ist natürlich, dass man meist einen ziemlich unsouveränen Eindruck hinterlässt. Aber das lässt sich nicht vermeiden", sagte der Autor. Hinterher könne jeder kluge Reden schwingen und sich über Versäumnisse lustig machen, solange man den Luxus genieße, nicht entscheiden zu müssen. Aber: "Was soll denn eine langfristige Strategie sein, wenn man nicht weiß, wie die Inzidenzen in ein oder zwei Wochen aussehen?"
Der Saarbrücker Forscher Thorsten Lehr hat da durchaus eine Vorstellung. Lanz ließ eine Grafik einblenden, die der Professor für Klinische Pharmazie an der Universität des Saarlandes beim Besuch vor einem Monat mitgebracht hatte. Sie hatte einen starken Anstieg der Fallzahlen im März prognostiziert. "Sie haben das fast eins zu eins auf den Tag genau vorhergesagt", würdigte der Gastgeber den Wissenschaftler. Der hatte leider eine neue Grafik mit einer derart steil ansteigenden Kurve zu bieten, dass sie gar nicht mehr ins Bild passte. Laut der Modellrechnung könnte die Sieben-Tage-Inzidenz nach Ostern bis Anfang Mai auf über 400 ansteigen, wenn keine Notbremse gezogen wird. Selbst mit Notbremse würde die Kurve ansteigen. Nur Ausgangssperren und Schulschließungen könnten demnach für sinkende Fallzahlen sorgen. Aber machen das die Leute überhaupt mit? "Der psychologische Faktor ist sehr schwierig", sagte Lehr mit Blick auf das Oster-Debakel, das für viel Verunsicherung gesorgt habe.
Precht: Bürger sind keine Kunden des Staats
Precht appellierte an die Bürger, sich bei aller berechtigter Kritik an der Politik, der eigenen Verantwortung für das Gelingen der Gemeinschaft bewusst zu werden. Menschen wie die vermeintlichen Querdenker hätten die seltsame Vorstellung, dass der Staat dazu da sei, ihnen Rechte zu garantieren, ihnen jedoch nichts abverlangen dürfe. Das sei natürlich ein Irrglaube. Aber auch wegen der vielen Versprechungen von Politikern im Wahlkampf hätten sich so manche Bürger zu politischen Schnäppchenjägern zurückentwickelt, denen es vorrangig um den eigenen Vorteil gehe, um nicht übervorteilt zu werden. "Sie benehmen sich nicht wie Staatsbürger, sondern sie werden zu Kunden", warnte Precht. "Wenn das passiert, dann bröckelt unser Gemeinwesen."
Er wiederholte aus einem Interview mit dem "Spiegel" seinen markigen Spruch "Corona-Leugner arbeiten selten auf Intensivstationen" und die Forderung, ein soziales Pflichtjahr für junge Menschen und Neu-Rentner einzuführen. So könnten Empathie und Gemeinsinn gestärkt oder überhaupt erst vermittelt werden. "Die positive Erfahrung, etwas für Andere zu tun, kann man nur praktisch vermitteln, das kann man jemandem nicht theoretisch erklären", gab der Philosoph zu bedenken. "Das ist die beste Form, gute Staatsbürger hervorzubringen." Und vielleicht ja auch bessere Politiker.
- "Markus Lanz" vom 25. März