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Erneute Flüchtlingskrise an Grenze: Die EU erntet, was sie gesät hat


Meinung
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Erneute Flüchtlingskrise
Die EU erntet, was sie gesät hat

  • Lamya Kaddor
MeinungEine Kolumne von Lamya Kaddor

Aktualisiert am 03.03.2020Lesedauer: 6 Min.
Pazarkule in der Türkei: Migranten stehen am geschlossenen türkisch-griechischen Grenzübergang – sie wollen in die EU.Vergrößern des Bildes
Pazarkule in der Türkei: Migranten stehen am geschlossenen türkisch-griechischen Grenzübergang – sie wollen in die EU. (Quelle: dpa)

Diejenigen in Europa, die angesichts der erneuten Flüchtlingskrise so lautstark auf den türkischen Präsidenten Erdogan schimpfen, machen sich der Heuchelei verdächtig. Die EU ist durch ihr politisches Versagen noch stärker Schuld an der Misere, meint unsere Kolumnistin Lamya Kaddor.

Es ist zu einfach, dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan allein die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die syrische Tragödie spielt sich vor den Haustüren der Türkei ab. An der türkischen Grenze kampieren derzeit mehr als eine Million syrische Geflüchtete unter schlimmsten Bedingungen. Sobald die Armee des syrischen Staatschefs Assad dieses Gebiet mit russischer Militärunterstüzung einnimmt, werden sie und andere Bewohner panikartig in die Türkei drängen. Einen anderen Weg gibt es für sie nicht. Sie stehen im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Rücken zur Wand.

Im Video: Das sind die Reaktionen auf Erdogans Drohungen

In der Türkei jedoch befinden sich bereits fast vier Millionen syrische Flüchtlinge. Zwischen ihnen und der einheimischen Bevölkerung wachsen die Spannungen zunehmend an. Anfeindungen und Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung.

Die Türkei muss daher innenpolitisch verhindern, dass noch mehr Geflüchtete ins Land kommen. Das kann sie nur, wenn es im Norden Syriens eine Schutzzone gibt, in der die Geflüchteten zumindest ohne Angst vor Militärangriffen ausharren und von der internationalen Gemeinschaft mit Hilfsgütern versorgt werden können.

Doch niemand kümmert sich darum. Russland ist es egal, die USA haben ihre Militärs aus dieser Region abgezogen, der UNO-Sicherheitsrat ist ein Witz, von der EU oder der Nato kommt nichts außer warmen Worten, etwas Geld und ein paar symbolischen Gesten.

In der nordsyrischen Provinz Idlib gilt offiziell eine Waffenruhe, doch Assads Armee und seine russischen Verbündeten halten sich nicht daran, bombardieren zivile Einrichtungen und drängen unaufhörlich vor, da die versprengten Reste der islamistischen Milizen keine ernsten Gegner mehr darstellen. Aktuell ist die Präsenz türkischer Truppen dort de facto die einzige Maßnahme, die die Zivilisten noch ein wenig beschützt; ich spreche hier nicht von den syrischen Kurdengebieten und dem dortigen Einmarsch türkischer Truppen, der gesondert zu bewerten wäre.

Die Europäische Union hat politisch versagt

Auf der anderen Seite der Türkei erntet die Europäische Union an ihren Außengrenzen gerade das, was sie durch ihr politisches Versagen gesät hat: Tausende Geflüchtete drängen teils mit Gewalt via Griechenland und Bulgarien in die EU. Wer wie Brüssel im eigenen Vorhof darauf setzt, dass andere – sprich die USA – die Probleme lösen und die Kohlen aus dem Feuer holen, gibt die Kontrolle ab. Die Folgen sind das Chaos einer brutalen Abschottungspolitik, das wir derzeit in diesem Grenzgebiet erleben.

Deshalb ist es pure Heuchelei, wenn die Kanzlerin Angela Merkel und andere nun dem türkischen Präsidenten allein vorwerfen, er würde auf dem Rücken der Geflüchteten seine Politik austragen. Nein, die EU trägt ihre Politik viel stärker auf dem Rücken der Geflüchteten aus. Das ist ebenso "inakzeptabel", um die Schelte der Bundeskanzlerin für Erdogan zu zitieren. Das außenpolitischen Nichtstun der EU, ihre innenpolitische Unfähigkeit, sich in der Flüchtlings- und Migrationspolitik zu einigen und stattdessen lieber auf zweifelhafte Abkommen mit Mittelmeeranrainerstaaten zu setzen, ist ebenso ein Schlag ins Gesicht der Geflüchteten.

Und nicht nur das, es ist auch ein Schlag ins Gesicht des Wirtschafts- und Nato-Partners Türkei sowie der Menschen in Syrien. Man könnte also durchaus fragen, was soll die Türkei denn tun, um diese "überbürokratisierte, apathische, satte, unbewegliche, entscheidungsschwache" EU, um hier mit den Worten des Schriftstellers Navid Kermani von 2005 (!) zu sprechen, endlich zum Handeln zu bewegen?

Auch wenn Erdogan zum egomanischen Sultan mutiert ist und Zehntausende Menschen in der Türkei unter ihm leiden, ist nicht per se alles falsch, was er vorschlägt. So viel Differenzierungskraft muss man hierzulande aufbringen können. Eine plumpe Verurteilung seiner Maßnahmen, nur weil Erdogan Erdogan ist, ist zu eindimensional.

Der Westen hat Erdogan vor Jahren im Stich gelassen

In Syrien war Erdogan sehr früh auf der richtigen Fährte. Als einer der ersten forderte er bereits vor acht Jahren zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs eine Schutzzone im Norden des Nachbarlandes. Hätte ihn der Westen damals unterstützt, wäre der EU und den Menschen in Syrien vieles erspart geblieben. Doch Erdogans Verbündete in der Nato ließen ihn eiskalt im Stich. Der Zeitgeist sagte den Staats- und Regierungschefs, keine militärischen Abenteuer mehr. In Washington, Brüssel, Paris, London und Berlin war niemand in der Lage zu differenzieren.

Primär gilt das freilich für Barack Obama, ein weiterer internationaler Hauptverantwortlicher für die syrische Misere. Der ehemalige US-Präsident war es, der Russland und dem Iran in Syrien Platz gemacht und einst mit lautstarken Worten eine rote Linie für Assad gezogen hat, die er ihn dann aber aus lauter Feigheit doch überschreiten ließ, denn Obama hatte im Wahlkampf versprochen, das US-Militär in keine weiteren Auslandseinsätze zu führen. Ein naives Versprechen für eine Weltmacht.

Militärisches Eingreifen ist problematisch, manchmal jedoch unvermeidlich, wenn man es mit Diktatoren zu tun hat, die ihr Volk massakrieren. Der Einsatz in den Jugoslawienkriegen hat gezeigt, dass eine beherzte, kontinuierliche und nachhaltige militärische Intervention und anschließende Politik bessere Ergebnisse erzielen und gescheiterte Staaten verhindern kann.

Für die EU geht es nicht nur um die Wirtschaft

Im Fall Syrien hätte es auf so eine Weise nicht die große Fluchtbewegung von 2015 gegeben und die Zahl der Kriegsopfer wäre gewiss geringer ausgefallen. Die EU hätte nur ihrer Verantwortung in ihrer direkten Nachbarschaft gerecht werden müssen, anstatt wie ein treuer Pudel zu Obama aufzusehen und auf Befehle zu warten, die nicht kommen. Die EU muss endlich begreifen, dass es nicht nur um Wirtschaft geht.

So stehen nun Geflüchtete und Vertriebene wieder vor der europäischen Grenze. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie wie 2015 über den Balkan nach Mitteleuropa gelangen, ist zwar gering. Die Route ist derart verbarrikadiert und verstacheldrahtet, dass ein Durchkommen ziemlich unmöglich ist. Was aber wiederkehrt, sind die schlimmen Bilder menschlichen Leids: Mütter und Väter, die mit ihren Kindern auf dem Arm durch den Rauch von Tränengasgranaten rennen, abgefeuert von europäischen Grenzschützern.

Alte, die versuchen, durch den eiskalten Evros zu waten. Verzweifelte Frauen in Schlauchboten und in Angst vor Schiffspatrouillen. Kleinkinder, die in erbärmlichen Flüchtlingslagern in Griechenland frieren und vegetieren. Jugendliche, deren Perspektiven für die eigene Zukunft ohne Schule und Ausbildung immer weiter entschwinden. Was soll das anderes bewirken als Frust und Aggression?

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Die europäische Politik kapiert es einfach nicht

Dass man solche fürchterlichen Szenen selbst in Europa erleben muss, ist unglaublich – ein Armutszeugnis für diesen angeblich so fortschrittlichen Kontinent. Aber wir kapieren es einfach nicht. Wir warten immer so lange, bis es zur Katastrophe kommt. Dann allerdings sind wir nur noch eingeschränkt handlungsfähig. Können nur noch versuchen, die schlimmsten Auswirkungen abzumildern, uns der härtesten und tragischsten Fälle unter den Geflüchteten anzunehmen, hektisch Zeit durch neue, brüchige Abkommen mit der Türkei zu erkaufen.

Doch all das ist keine Lösung – die besteht allein in der wahrhaften Befriedung Syriens. Seit Jahren warnen Stimmen vor den Unzulänglichkeiten des EU-Türkei-Pakts, der bloß eine trügerische Friedhofsruhe vermittelte. Konnte denn wirklich irgendjemand glauben, dass die vier Millionen Geflüchteten in der Türkei einfach alle dort bleiben und keiner die erste Gelegenheit zur Weiterreise nutzen wird? Oder dass Erdogan sich an Verträge hält, wenn nicht mal Donald Trump das tut? Wie kann man eine solche Politik des Hoffens und Bangens, es möge schon nichts passieren, ernsthaft verfolgen?

Leider ist das ein wiederkehrendes Muster europäischer und deutscher Politik. Die gleichen Fehler erleben wir gerade bei der Corona-Krise. Seit Wochen ist das neue Virus bekannt, aber es wurde nicht konsequent gehandelt. Warum wurde beispielsweise nicht schon im Januar und Februar dafür gesorgt, zusätzliche Schutzkleidung, Desinfektionsmittel, Arzneien zu besorgen und Gesundheitsämter, Mediziner auf mögliche Szenarien vorzubereiten?

Nein, erst mussten vermehrt Fälle von Covid-19 und eine gewisse Panik in Deutschland auftreten, bevor dann hektisches Treiben einsetzt. Oder nehmen wir das Beispiel Hasskriminalität und Islamfeindlichkeit. Ich warne seit bald 15 Jahren vor exakt jenen Entwicklungen, die wir derzeit unmissverständlich vergegenwärtigt bekommen mit Hanau, Halle, Walter Lübke, Hetze im Netz, Bombendrohungen gegen Moscheen, Bürgerkriegs- und Deportierungsfanatsien etc. Ich gehörte zu den ersten Leidtragenden. Inzwischen wird zwar endlich gehandelt, aber auch hier mussten erst Katastrophen kommen.

Diese Art der Angsthasenpolitik, die sich scheut, rechtzeitig die Ressourcen aufzuwenden und in die richtigen Bahnen zu lenken, und lieber darauf wartet, bis auch die letzten Wählerinnen und Wähler von der Notwendigkeit eines Handelns überzeugt sind, ist gescheitert. Es sind dabei bereits so viele „Kinder“ in den Brunnen gefallen, es bedürfte einer polizeilichen Sonderkommission. Dennoch möchte ich die Hoffnung nicht verlieren, dass die Politik aus ihren Fehlern einmal lernen und wenigstens in Zukunft anders handeln wird.

Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin, Publizistin und Gründerin des Liberal Islamischen Bunds e.V. (LIB). Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr aktuelles Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.

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