Streitthema Frauentag Einige Muslime haben sich vollkommen daneben benommen
Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Im Nachgang zum Frauentag haben sich einige Muslime vollkommen daneben benommen. Abgesehen hatten sie es dabei auf liberale Glaubensgenossen. Das zeigt: Es ist noch viel zu tun.
Wir haben noch einen weiten Weg vor uns. Das ist mir in der vergangenen Woche im Nachgang zum Internationalen Frauentag mal wieder deutlich geworden. Der Liberal-Islamische Bund (LIB e.V.) hatte anlässlich des 8. März einen Gruß veröffentlicht: Die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der muslimischen Gemeinschaft ist und bleibt ein zentrales Anliegen, für das der LIB kämpft. In LIB-Gemeinden ist es seit Vereinsgründung vor nunmehr fast zehn Jahren üblich, auch gemischtgeschlechtliche Gebete abzuhalten oder eine Frau als Vorbeterin einzusetzen. Der LIB ist der erste muslimische Zusammenschluss, der solche Möglichkeiten für Gläubige in Deutschland geschaffen hat. Das wurde bei diesem Frauentagsgruß mit einem Foto unterstrichen, das Frauen und Männer bei einem solchen gemeinsamen Gebet zeigt.
Daraufhin gab es Zuspruch und Unterstützung für den LIB. Gleichfalls gab es jedoch erschreckende Beschimpfungen und Verunglimpfungen durch Frauen, aber vor allem durch Männer. Der Tiefpunkt: Muslime, von denen sich einige als gläubig, andere als säkular bezeichneten, ließen ihren ekelhaften Sexfantasien freien Lauf und bewiesen damit, dass sie sich nicht unter Kontrolle haben, wenn eine Frau in ihrer Nähe ist – nicht einmal, wenn diese sich vor Gott verbeugt.
Von verletzter Männlichkeit bis Angst um Deutungsverlust
Ich kann verstehen, wenn gemischtgeschlechtliche Gebete anderen Gläubigen in ihrem Verständnis von Religion widersprechen. Aber müssen sie deshalb so auftreten und dabei ein Bild von Muslim*innen entwerfen, das die Vorurteile gegenüber allen Muslim*innen zu bestätigen scheint?
Es ist wirklich erschreckend, was selbst im Jahr 2019 immer noch bei einigen dieser "Kritiker" hochkommt: verletze Männlichkeit bei den einen, Angst um den Verlust der Deutungshoheit bei den anderen, Unwissenheit bei sehr vielen, miserabler Umgangston bei fast allen.
Was heißt liberal?
Viele Menschen in Deutschland sind derzeit dünnhäutig. Sie reagieren mit Angst, Wut und Hass auf gesellschaftliche Veränderungen. Unter Muslim*innen in Deutschland ist das nicht anders. Neuerungen werden skandalisiert, aus dem Kontext gerissen und lächerlich gemacht. Empörungswellen inklusive. Doch woran liegt das?
Es ist nicht Ziel liberaler Muslim*innen, Menschen zu gemischtgeschlechtlichen Gebeten zu drängen. Liberal heißt, anderen in ihren Ansichten ohne Abwertung zu begegnen und sie zu respektieren – ob sie nun säkularer oder konservativer sind als man selbst. Liberale Muslim*innen sprechen und wenden sich lediglich gegen radikale Auffassungen.
Kein explizites Verbot für Frauen in der Sunna
Wir haben in den eigenen Reihen Personen, die auch Bauchschmerzen haben, wenn eine Imamin vorbetet. Aber sie tolerieren es dennoch: Sie hören sich die Auslegung islamischer Quellen an, die verdeutlichen, dass muslimische Frauen nicht ein Schritt hinter den Männern zu gehen haben, sondern neben ihnen gehen dürfen. Sie nehmen zur Kenntnis, dass es in der islamischen Welt schon immer gelehrte und wertgeschätzte Frauen gegeben hat.
Selbst der frühere ägyptische Großmufti Ali Gomaa gestand vor ein paar Jahren ein, dass es im Koran und in der Sunna kein explizites Verbot für Frauen gibt, gemischte Gebete zu leiten. Historische Größen wie al-Tabari formulierten das schon vor Jahrhunderten.
Niemand weiß es besser als Gott
Warum haben dennoch so viele Muslim*innen Sorgen, wenn andere Muslim*innen anderen Auslegungen des Korans folgen? Geht es ihnen wirklich um den Islam? Der Koran ermahnt Gläubige, den Verstand einzusetzen und über die Verse nachzudenken. "Und am Ende weiß es niemand besser als Gott allein."
Dieses berühmte Diktum im Islam gilt von Beginn an. Doch heutzutage maßen sich (scheinbar zunehmend) Muslim*innen dieses göttliche Wissen an und behaupten, sie kennen die alleinige Wahrheit so wie Gott. Die Ausbreitung dieser Engstirnigkeit ist die eigentliche "bid'a" im Islam – eine verwerfliche Abänderung der Religion durch den Menschen. Was ist mit der göttlichen Forderung, im Guten miteinander zu streiten? Warum gilt die nicht mehr? Warum diese Häme und Polemik?
Alle tun so, als gebe es einen Islam
Es hat in jedem Fall mit Erziehung im häuslichen Umfeld zu tun. Viele bekommen heutzutage beigebracht, es gebe nur einen Islam – und das ist selbstverständlich der, den man Zuhause oder in der Heimatmoschee lebt. Unter Türken ist er dann so, unter Arabern so, unter Deutschen so, unter Indonesiern so, unter Uiguren so und so weiter. Und weil sie alle nicht miteinander über die Unterschiede sprechen mögen, leben sie fort im Selbstbetrug, es gebe eben nur einen Islam.
Es hat gewiss auch mit der Diaspora-Situation zu tun. Die meisten Muslim*innen in Deutschland haben zugleich einen Migrationshintergrund und sind mit entsprechenden Herausforderungen zwischen Ausgrenzung, Anpassung und Selbstentfaltung konfrontiert. Der Islam fungiert für einige von ihnen als wesentliches Identitätsmerkmal, weil ihnen beispielsweise das Deutschsein ebenso abgesprochen wird, wie die eindeutige Zugehörigkeit zum Herkunftsland der Eltern oder Großeltern. Ihre Identität "Muslim" gilt es daher unbedingt zu behüten und zu beschützen.
Leben und leben lassen
Ein weiterer Grund für ablehnende Verhaltensweisen gegenüber allem, was der eigenen Religionsauffassung zu widersprechen scheint, können politische Ziele sein. Hinzu kommen womöglich mangelndes Wissen über islamische Theologie und Geschichte (was Menschen nicht davon abhält, dennoch alles besser wissen zu wollen), Phänomene wie Gruppendruck, der Wunsch, zu einer starken Gemeinschaft zu gehören und ähnliches.
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Was heißt das nun? Leben und leben lassen. Das ist die wichtigste Geisteshaltung für alle in einer freiheitlichen, demokratischen, offenen, modernen und diversen Gesellschaft. Religiöse Gemeinschaften bilden da keine Ausnahmen. Für diese Überzeugung müssen wir weiter streiten und weiter Überzeugungsarbeit leisten. Immerfort und immerzu. Genau dafür haben wir damals auch den LIB gegründet.
Lamya Kaddor ist Islamwissenschaftlerin, Religionspädagogin und Publizistin. Derzeit leitet sie ein Forschungsprojekt an der Universität Duisburg-Essen. Ihr neues Buch heißt "Die Sache mit der Bratwurst. Mein etwas anderes deutsches Leben" und ist bei Piper erschienen. Sie können unserer Kolumnistin auch auf Facebook oder Twitter folgen.