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Wir müssen einen Schlussstrich ziehen


Kolumne "Zwischentöne"
Wir müssen einen Schlussstrich ziehen

Meinungt-online, Lamya Kaddor

22.09.2017Lesedauer: 4 Min.
t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor fordert Einwanderer und deren Familien auf, bei der Wahl für Akzeptanz und Vielfalt zu stimmen.Vergrößern des Bildes
t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor fordert Einwanderer und deren Familien auf, bei der Wahl für Akzeptanz und Vielfalt zu stimmen. (Quelle: dpa-bilder)
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Wir Einwanderer und deren Nachkommen erfahren in Deutschland oft Ablehnung. Das sollte uns nicht davon abhalten, wie gute Deutsche zu wählen, meint t-online.de-Kolumnistin Lamya Kaddor.

Ja, vor einigen Jahrzehnten fand sich an einer deutschen Gaststätte ein Schild mit der Aufschrift: „Proibito. Rigorosamento l’ingresso agli Italiani!“ - „Eintritt für Italiener verboten.“ Ja, „Der Spiegel“ titelte 1973: „Die Türken kommen - rette sich, wer kann“. Ja, in Deutschland spottete man: „Grün und blau, Pollacksfrau“, um sich über die angeblich geschmacklose bunte Kleidung von Polen lustig zu machen. Unsere Eltern mussten in ihrem harten Alltag in Deutschland Erniedrigungen ertragen und Verletzungen wegstecken, die tiefe Narben auf der Seele hinterlassen haben. „Am Anfang waren wir die ‚Badoglio‘ - die ‚Verräter‘,“ erzählt ein „Gastarbeiter“: „Mit den Jahren, wurden wir ‚Spaghettifresser‘ und ‚Makkaronifresser‘. Und auch wenn du versucht hast, darauf zu reagieren, zurückzufrotzeln und sie ‚Kartoffelfresser‘ zu nennen, tat es immer ein bisschen weh…“

Wir, die wir Kinder oder Enkelkinder von „Gastarbeitern“ sind, kennen solche Erzählungen von Enttäuschungen und Frust unserer Vorfahren nur zu gut. In manchen Momenten blitzen sie immer noch auf, sodass sie uns selbst Schmerzen bereiten. Wir erleben es auch leibhaftig. Wenn ich allein im Supermarkt stehe, passiert nichts. Wenn meiner Mutter mal dabei ist, die ein Kopftuch trägt und Deutsch mit Akzent spricht, sind meine Erlebnisse mitunter anders. Der „Gastarbeiter“ Giuseppe La Torre erinnert sich: „Die deutschen Kollegen, mit denen ich auf der Arbeit prima auskam, riefen, wenn wir einziehen wollten: ‚Italiener im Haus? Oh, Katastrophe!“.

Kommenden Sonntag werden stramme Rechte in den Deutschen Bundestag einziehen. Das ist sicher. Höchstwahrscheinlich wird die Partei, auf deren Ticket sie unterwegs sind, sogar drittstärkste Kraft. Wer zu den gut 20 Prozent der Bevölkerung zählt, deren Familie eine Zuwanderungsgeschichte aus jüngerer Zeit hat, dem dürfte angesichts von Vergangenheit und Gegenwart unwohl sein. Wir, die wir neben der deutschen noch eine weitere Identität haben, sollten das zwar ernst nehmen, aber wir sollten uns von der Vergangenheit und dieser Perspektive nicht ins Bockshorn jagen lassen. Im Gegenteil. Wir haben unseren Teil dazu beizutragen, dass wir als gleichwertige Bürger auf Augenhöhe wahrgenommen werden - das gilt erst recht für uns, die wir sogar in Deutschland geboren wurden. Wir können nicht darauf warten, dass uns die gesamte Mehrheitsbevölkerung erst in Watte packt. Das wäre wie das Warten auf Godot. Es wird nicht geschehen.

Ich möchte daher vorschlagen, dass wir einen Schlussstrich unter die Vergangenheit mit all ihren Kränkungen, Affronts und Demütigungen unserer Eltern und Großeltern ziehen. Raus aus der Opferhaltung! Wir müssen uns kritisieren lassen und kritisieren selbst. Das Fortkommen mit gesenktem Haupt und angezogener Handbremse bringt uns keine gesellschaftliche Gleichberechtigung. Wir sollten selbstbewusst, selbstkritisch und selbstreflektierend im Wissen um die Vergangenheit nach vorne schauen.

Wir gehen am Sonntag wählen. Wir lassen uns nicht von ausländischen Staatschefs anraten, wen. Wir sind vollwertige Bürger dieses Landes. Dass Deutschland ein demokratisches und rechtsstaatliches Land ist und bleibt, liegt somit auch in unserer Verantwortung.

Die allermeisten von uns wollen das längst genauso. Das lässt sich sogar in nüchternen Zahlen ausdrücken: Die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte hat gerade eine datenreiche Untersuchung über muslimische Einwanderer und ihre in der EU geborenen Kinder vorgelegt. Die überwiegende Mehrheit hat demnach großes Vertrauen in demokratische Institutionen, obwohl sie weitverbreitete Diskriminierungen und Belästigungen erfahren. 76 Prozent haben ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zum Land, in dem sie leben. Nutzen wir das Potenzial, um uns als mündige Staatsbürger zu erweisen, die im Bewusstsein negativer Erfahrungen gerade deshalb die Kraft aufbringen, Einfühlungsvermögen, Gerechtigkeit und Toleranz vorzuleben.

Sollten wir uns doch zu schwach dafür fühlen, tun wir bitte eines auf keinen Fall: uns selbst dem rechtspopulistischen Diskurs unterwerfen und die völkischen Thesen für uns annehmen. Nach dem Motto: „Die Deutschen wollen uns sowieso nicht.“ Scheren wir uns beim persönlichen Empfinden weniger um jene mit rassistischen Sprüchen wie: „Wenn ein Schwein im Kuhstall geboren wird, bleibt es trotzdem ein Schwein.“ Deutschland ist de facto ein Einwanderungsland - da können sich einige noch so weit aus dem Fenster lehnen und Nein brüllen.

Hasserfüllte Menschen wird es immer geben. Bestimmte Gruppen werden immer auf bestimmte Gegner stoßen. In Deutschland werden Atheisten angefeindet. Gläubige Menschen werden angefeindet. Homosexuelle werden angefeindet. Frauen werden angefeindet. Deutsche werden in Deutschland angefeindet. All das war und wird (leider) immer sein. Unser aller Job ist es, solche menschenfeindlichen Haltungen klein zu halten - und: über die negativen Vorfälle nicht zu vergessen, dass die Mehrheit in Deutschland immer ganz anders ist! Den Satz: Die Deutschen werden die AfD vielleicht zur drittstärksten Kraft im neuen Bundestag machen, kann man nämlich auch so formulieren. 80 bis 90 Prozent von ihnen sorgen dafür, dass die AfD eine Minderheit bleibt.

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