"Zusammenbruch des Vertrauens" Gorbatschow: Westen hat Zusagen von 1989 gebrochen
Bei den Feiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls in Berlin hat der frühere sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow schwere Vorwürfe gegen den Westen erhoben. Im Zusammenhang mit dem Ukraine-Konflikt sagte er: "Die Welt ist an der Schwelle zu einem neuen Kalten Krieg. Manche sagen, er hat schon begonnen." Mit seinen Äußerungen habe Gorbatschow für frostige Stimmung bei dem Fest gesorgt, schreibt die französische Zeitung "Le Monde".
In den letzten Monaten habe sich ein "Zusammenbruch des Vertrauens" vollzogen.
Westen nutzt Schwäche Russlands aus
Der Friedensnobelpreisträger, der als einer der Väter der deutschen Einheit gilt, warf dem Westen und insbesondere den USA vor, ihre Versprechen nach der Wende 1989 nicht gehalten zu haben. Stattdessen habe man sich zum Sieger im Kalten Krieg erklärt und Vorteile aus Russlands Schwäche gezogen.
"Die Ereignisse der vergangenen Monate sind die Konsequenzen aus einer kurzsichtigen Politik, aus dem Versuch, vollendete Tatsachen zu schaffen und die Interessen des Partners zu ignorieren."
Zahlreiche Entscheidungen untergraben Vertrauen
Bereits in den 1990er Jahren habe der Westen begonnen, im Verhältnis zu Russland das Vertrauen zu untergraben, das die friedliche Revolution in Deutschland und in Mittel-Osteuropa möglich gemacht habe. "Die Nato-Erweiterung, Jugoslawien und vor allem das Kosovo, Raketenabwehrpläne, Irak, Libyen, Syrien", nannte Gorbatschow als Beispiele.
"Und wer leidet am meisten unter der Entwicklung? Es ist Europa, unser gemeinsames Haus."
Stabilisierung der Beziehungen gefordert
Ungeachtet der schweren Vertrauenskrise forderte Gorbatschow, dessen Politik der Öffnung die Voraussetzungen für die Wiedervereinigung geschaffen hatte, eine Stabilisierung der deutsch-russischen Beziehungen. "Hier in Berlin, zum Jahrestag des Mauerfalls, muss ich feststellen, dass all dies auch negative Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland hat", sagte er.
"Lasst uns daran erinnern, dass es ohne deutsch-russische Partnerschaft keine Sicherheit in Europa geben kann." Gorbatschow trifft am Montag mit Kanzlerin Angela Merkel zusammen.
Werben für Ukraine-Politik des Kremls
Der 83-Jährige, der früher als Kritiker des russischen Präsidenten Wladimir Putin hervorgetreten war, warb bei der Veranstaltung der "Cinema For Peace Foundation" direkt am Brandenburger Tor erneut um Verständnis für die aktuelle Moskauer Politik im Ukraine-Konflikt.
Jüngste Äußerungen Putins ließen das Bestreben erkennen, Spannungen abzubauen und eine neue Grundlage für eine Partnerschaft zu schaffen. Gorbatschow forderte eine schrittweise Aufhebung der gegenseitigen Sanktionen. Vor allem die von der EU und den USA verhängten Strafmaßnahmen gegen Politiker müssten aufgehoben werden.
"Weil er (Gorbatschow) weder in Polen 1988 noch in der DDR 1989 Panzer gegen die Bevölkerung eingesetzt hat, ist der letzte Führer der Sowjetunion in Deutschland noch immer ein Held, " kommentiert "Le Monde" den Auftritt Gorbatschows. Er sei eingeladen worden und solle eine Medaille erhalten. "Das hinderte ihn nicht daran zu erklären, er sei absolut überzeugt, dass (Präsident Wladimir) Putin mehr als alle anderen heute die Interessen Russlands beschützt. Mit Blick auf die Ukraine-Krise mit einem sehr zerbrechlichen Waffenstillstand zwischen Kiew und prorussischen Rebellen sorgte der Kommentar für frostige Stimmung."
Genscher: "Neuanfang" ist notwendig
Unterdessen hat auch der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher angesichts der aktuellen Ost-West-Spannungen um die Ukraine einen "Neuanfang" für Europa. "Es besteht eine große Sorge, weil ich nicht glaube, dass aus den Chancen, die das Jahr 1989 geboten hat, das gemacht wurde, was gemacht werden konnte", sagte der FDP-Politiker.
In einem Interview der Deutschen Welle sagte er, das Bemühen um das "gemeinsame europäische Haus", wie es Gorbatschow gefordert habe, brauche neue Energie.
So müsse der Nato-Russland-Rat wiederbelebt werden. "Diese große Errungenschaft" sei gerade für Krisenzeiten geschaffen worden. "Jetzt haben wir die Krise, und der Rat tritt nicht zusammen. Ich denke, hier haben beide Seiten Anlass nachzudenken", betonte der 87-Jährige, der als einer der Architekten der Wiedervereinigung gilt.