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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Familienministerin Lisa Paus "Das ist die bittere Wahrheit"
Was bedeutet Russlands Krieg für die Familienpolitik? Ministerin Lisa Paus über die Spaltung der Gesellschaft, Entlastungen – und ihr größtes Projekt.
t-online: Frau Paus, wie gut schlafen Sie in diesen Tagen?
Lisa Paus: Wir leben in einer bewegten, krisenhaften Zeit. Aber ich bin generell mit einem ordentlichen Schlaf gesegnet, das hilft.
Ampelkollegen von Ihnen klagen über schlaflose Nächte wegen des Ukraine-Kriegs. Wie sehr treffen die Auswirkungen die deutsche Familienpolitik?
Wir haben es zwar mit einer äußeren Bedrohung zu tun. Aber diese Bedrohung gefährdet unseren inneren Zusammenhalt. Die Spaltung der Gesellschaft hat zugenommen. Die Inflation beispielsweise ist existenzbedrohend für viele Menschen, das birgt gesellschaftspolitischen Sprengstoff.
Sie haben Ihr Haus kürzlich "Gesellschaftsministerium" genannt. Wie verändert der Krieg konkret unsere Gesellschaft?
Viele Gewissheiten sind verloren gegangen. Etliche Menschen, die den Krieg nur aus Geschichtsbüchern kannten, erleben ihn plötzlich in Europa. Während der Finanzkrise hieß es damals, die EU brauche eine neue Erzählung, weil sie als Friedensprojekt ja selbstverständlich sei. Aber nun ist Schluss mit Selbstverständlichkeiten, das ist die bittere Wahrheit. Und das führt zu einer riesigen Verunsicherung. Hinzu kommen noch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen – zumal wir gerade seit zweieinhalb Jahren eine Pandemie erleben. Das ist hart.
Lisa Paus, 54 Jahre alt, ist Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Sie folgte im April auf Anne Spiegel, die im Rahmen der Aufarbeitung der Flutkatastrophe zurücktreten musste. Paus stammt aus Nordrhein-Westfalen, sitzt seit 2009 für die Grünen im Bundestag und war lange Finanzexpertin ihrer Fraktion.
Was tun Sie dagegen?
Wir helfen denjenigen, die in ihrer Existenz bedroht sind. Daran arbeite ich jeden Tag.
Wie?
Wir haben als Bundesregierung zwei Entlastungspakete in Höhe von 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Einige Dinge entfalten jetzt ihre Wirkung, wie der Kindersofortzuschlag von 20 Euro mehr pro Monat. Längerfristig wird sich auch die Erhöhung des Grundfreibetrags bei der Einkommensteuer bemerkbar machen.
Reicht das, wenn im Herbst die hohen Gasrechnungen kommen?
Ich gehe davon aus, dass wir weitere Entlastungen brauchen werden.
Welche?
Darüber sprechen wir gerade in der Koalition und darum geht es auch in der konzertierten Aktion. Natürlich können wir nicht alle Preissteigerungen für jeden kompensieren. Aber ein vollständiger Gasstop aus Russland, sofern er eintreten sollte, wird enorme Auswirkungen haben. Deswegen müssen wir zielgenauer werden. Ärmere Familien mit Kindern gehören aber definitiv zu der Gruppe, die weiter entlastet werden muss. Deswegen ist für mich auch die Kindergrundsicherung so ein wichtiges Projekt.
Bis die kommt, dauert es aber noch.
Das stimmt, weil es ein größerer Umbau im System ist, der viele Leistungen zusammenfasst. Ab 2025 soll die Kindergrundsicherung ausgezahlt werden, das ist mein Ziel. Unser Vorhaben ist ein Paradigmenwechsel. Im Herbst nächsten Jahres soll der Entwurf fertig sein.
Haben Sie eine Idee, wie hoch die Kindergrundsicherung sein soll?
Eine Arbeitsgruppe aus sieben Ministerien arbeitet intensiv daran, wie wir die Kindergrundsicherung ausgestalten. Kurzfristig werden wir vor allem über eine Anpassung des Kindergeldes sprechen.
Angesichts der Inflation bedeutet das: Das Kindergeld wird steigen?
Darauf wird es wohl hinauslaufen. Das Kindergeld könnte jetzt helfen, weil ärmere Familien mit Kindern besonders von steigenden Preisen belastet sind. Neben einer Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze wäre das ein Weg, diese Familien zielgenau zu unterstützen.
Die Rentner haben Entlastungen wie die Energiepreispauschale nicht bekommen. Brauchen sie weitere Entlastungen?
Altersarmut ist leider Realität in Deutschland. Ärmere Rentnerinnen und Rentner haben dieselben Probleme mit den steigenden Preisen wie andere arme Haushalte auch. Deshalb müssen wir auch an sie denken. Dafür setze ich mich ein. Grundsätzlich gilt: Wir dürfen nicht zulassen, dass Menschen in diesem Winter Strom und Gas abgedreht werden, weil sie ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können.
Sie stellen sich hinter den Vorschlag der Umweltministerin Steffi Lemke eines Moratoriums für Strom- und Gassperren? Justizminister Marco Buschmann von der FDP ist da skeptisch.
Selbstverständlich unterstütze ich das. Wir müssen alles tun, um zu verhindern, dass Menschen im Dunkeln sitzen und frieren müssen.
Sie sagten kürzlich: "Die Gesellschaft ist viel weiter als die Politik" – wo müssen Sie konkret nachlegen, um so weit zu sein wie die Gesellschaft?
Diese Regierung hat sich viel vorgenommen, um unsere Gesellschaft zu modernisieren. Wir wollen zum Beispiel das Abstammungsrecht reformieren, die gemeinsame Mutterschaft für lesbische Paare ermöglichen und die Rechte von Alleinerziehenden verbessern. Die bestehende Vielfalt von Familien muss rechtlich abgebildet und unterstützt werden. Dabei wird niemandem etwas weggenommen.
Das hört sich fortschrittlich an. Was haben Sie gedacht, als Sie vom Abtreibungsurteil in den USA gehört haben?
Das sage ich hier lieber nicht wörtlich ...
Und wie lautet die offizielle Version?
Es ist wirklich verheerend. Vor allem geht die Entscheidung zulasten der Gesundheit von Frauen. Andererseits war es nicht überraschend: Donald Trump hatte eine konservative Mehrheit im Supreme Court geschaffen, die jetzt ihren Überzeugungen entsprechend entscheidet.
Könnte so eine rechtskonservative Wende in der Gesellschaftspolitik und der Rechtsprechung auch die Bundesrepublik erfassen?
Wenn die AfD bei uns eine entsprechende Mehrheit hätte, würde sie vermutlich auch das Bundesverfassungsgericht nach ihrem Gusto besetzen. Die Entwicklungen in den USA sind mir schon eine Warnung: Wir müssen die Politikverdrossenheit einiger Menschen ernst nehmen und gute Gesetze machen. Die AfD ist von einer großen Zustimmung in Deutschland weit entfernt, aber trotzdem sind die Demokratien weltweit nicht in der besten Verfassung. Auch nicht in Deutschland. Wir bringen deshalb als Ampelkoalition das Demokratie-Fördergesetz auf den Weg. Gerade weil wir turbulente wirtschaftliche Zeiten haben, brauchen wir einen starken gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Sie wollen den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches streichen, der den Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stellt. Die FDP wirkt nicht so überzeugt. Setzten Sie das trotzdem um?
Wir werden eine Kommission einsetzen, die darüber beraten wird und anschließend ein Ergebnis vorlegen kann. Aber ja, ich sehe da Reformbedarf.
Und den sollen erst mal Experten erörtern?
Ja.
Ist das nicht eher eine Haltungsfrage? Dass Frauen selbst über ihren Körper entscheiden können?
Meine Haltung ist da glasklar. Und die Expertinnen und Experten sollen ja keine Gesetze schreiben, das machen schon wir. Ziel ist es, dass die Kommission bis Dezember dieses Jahres an den Start geht.
Ende des Jahres läuft die Unterstützung des Bundes für zusätzliches Personal in den Kitas zur Förderung der Sprache von Kindern aus. Ist Ihnen die Sprachentwicklung der Kinder egal?
Das Gegenteil ist der Fall. Die frühe sprachliche Bildung in den Kitas ist essenziell für die Chancengerechtigkeit. Darüber ist sich die Bildungswissenschaft einig. Wir werden Kinder deshalb weiterhin fördern, machen das aber rechtlich über einen anderen Weg. Und zwar im Rahmen des Gute-Kita-Gesetzes. Die Länder erhalten über dieses Gesetz zwei Milliarden Euro pro Jahr vom Bund – und damit fast zehn Mal so viel wie bisher über das Sprachkitaprogramm. Dieses Geld kann schon jetzt in die Sprachförderung gesteckt werden.
Aber?
Bisher tun dies allerdings erst fünf Bundesländer und auch nur zu einem sehr geringen Anteil, verglichen mit der Gesamtsumme, die zur Verfügung steht. Wir wollen, dass die Sprachförderung in Zukunft priorisiert wird. Daher entwickeln wir das Gesetz in ein Kita-Qualitätsgesetz weiter. Wir verankern die Sprachförderung damit in der Regelfinanzierung. Das Bundesprogramm "Sprachkitas" war ein Modellprojekt und von Anfang an befristet – so wie alle Förderprogramme des Bundes in diesem Bereich. Denn für die frühe Bildung in den Kitas sind die Länder zuständig. Unterstützt werden die Kinder natürlich weiterhin.
Oft heißt es, die Ampelkoalition sei sich in der Gesellschaftspolitik so einig wie in keinem anderen Politikfeld. Haben Sie den leichtesten Job im Kabinett?
Stellen Sie sich das mal nicht zu einfach vor! Aber im Ernst: Ich brenne für meinen Job – auch, weil er herausfordernd ist. Ja, es gibt eine große Übereinstimmung in der Koalition, ich arbeite gern mit Justizminister Marco Buschmann und Nancy Faeser im Innenministerium zusammen. Wir tun ganz real etwas für den Erhalt der Demokratie und für eine Familienpolitik, die gesellschaftliche Spaltung reduziert. Das sind ausfüllende Aufgaben und meine Motivation.
Frau Paus, vielen Dank für das Gespräch.
- Telefonisches Gespräch mit Familienministerin Lisa Paus