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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Steigender Impfdruck "Genau damit züchten wir ja diese Angst heran"
Ignoriert die Coronapolitik die Interessen von Kindern und Jugendlichen? Bei "Markus Lanz" beklagen Schülervertreter dramatische Zustände. Eine Stiko-Ärztin kritisiert den steigenden Impfdruck.
Kaum eine zweite Gruppe zahlt einen so hohen Preis für die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie wie die Schülerinnen und Schüler. Unter dem Druck einer permanenten Ausnahmesituation versuchen sie, den Lernstoff zu bewältigen und die Herausforderungen des Erwachsenwerdens zu meistern.
Bei "Markus Lanz" machte am Donnerstagabend Johanna Börgermann, Mitglied im Vorstand der Landesschüler*innenvertretung NRW, ihrem Unmut und ihrer Verzweiflung über die gegenwärtige Situation an den Schulen Luft. Sie beschrieb dramatische Zustände und forderte, Schule müsse in der Politik wieder Hauptfach werden, statt Nebenfach zu sein. "Wir leiden", fasste die Abiturientin den Zustand der "Corona-Generation" zusammen.
Die Gäste
- Johanna Börgermann, Mitglied im Vorstand der Landesschüler*innenvertretung NRW
- Karin Prien (CDU), Präsidentin der Kultusministerkonferenz
- Eva Hummers, Mitglied der Ständigen Impfkommission des Robert Koch-Instituts
- Aladin El-Mafaalani, Soziologe
Börgermann zählt zu den kritischen Stimmen hinter der Petition #WirWerdenLaut, die auf die Missstände der Schulpolitik in Coronazeiten aufmerksam machen will. Die 19-Jährige, die das Städtische Gymnasium im ostwestfälischen Löhne besucht und in der Jugendorganisation der SPD ("Jusos") aktiv ist, steht selbst kurz vor den Abschlussprüfungen.
Schülerin berichtet von Testangst
Aus ihrem Unterrichtsalltag wusste sie Trauriges zu berichten. "Es gibt wirklich Kinder, die sitzen am Tisch und die weinen vor dem Test. Die machen wir ja dreimal wöchentlich. Und wenn der Test positiv ist, dann möchte ich Ihnen gar nicht erzählen, was da passiert", schilderte Börgermann zum Ablauf der Coronatests an ihrer Schule.
Sie wünschte sich mehr Unterstützung durch pädagogisch geschultes Personal sowie die Möglichkeit zum Distanzunterricht für benachteiligte Gruppen. Generell mahnte die Abiturientin an, die "psychische Gesundheit" der jungen Menschen nicht aus dem Blick zu verlieren. "Wir haben auch in meinem Alter Schülerinnen und Schüler, die haben Angst vor einer Infektion", versicherte die Abiturientin. Darauf müsse man eingehen.
Als Pladoyer gegen Coronatests an Schulen wollte Börgermann ihre Aussagen nicht verstanden wissen. Sie forderte sogar, damit so lange fortzufahren, "bis Schülerinnen und Schüler sich ohne Test wieder in der Schule sicher fühlen."
Stiko-Ärztin: "Damit züchten wir ja diese Angst heran"
Niemand, außer vielleicht Intensivkrankenschwestern, werde aktuell so viel getestet wie Schulkinder, obwohl Schulen noch immer kein großer Pandemietreiber seien, gab hingegen Eva Hummers zu bedenken. Die Direktorin des Instituts für Allgemeinmedizin der Universität Göttingen befand: "Genau damit züchten wir ja diese Angst heran, aber der persönliche Nutzen ist für die allermeisten ganz gering." Hummers, die der Ständigen Impfkommission des Robert Koch-Instituts angehört, berichtete außerdem von steigendem Impfdruck, der an den Schulen auf Eltern und Kinder ausgeübt werde.
"Das ist total inakzeptabel", urteilte Karin Prien, die Bildungsministerin des Landes Schleswig-Holstein. Notwendig sei vielmehr, dass sich alle Erwachsenen, die sich impfen lassen könnten, impfen ließen. "Die haben eine Verpflichtung gegenüber den Jungen, die fast zwei Jahre lang für die erwachsenen Vulnerablen den Kopf hingehalten haben", urteilte die stellvertretende CDU-Vorsitzende.
Es ärgere sie maßlos, wenn Erwachsene dem nicht nachkämen, angesichts der Nachteile, die junge Menschen hierzulande in Kauf genommen hätten. "In anderen europäischen Ländern gab es viel weniger Schulschließungen, gab es viel weniger Einschränkungen von Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche", so Prien.
Soziologe sieht nachhaltige Folgen für Kinder
"Es ist auf jeden Fall maximal tragisch, dass diejenigen, die am wenigsten vom Virus betroffen sind, am allerstärksten von den Maßnahmen betroffen sind", konstatierte auch Aladin El-Mafaalani. Für Kinder gebe es nichts Wichtigeres, als mit anderen Kindern zu spielen, und nichts Anstrengenderes, als immer nur gestresste Erwachsene um sich zu haben. "Das wird nachhaltige Folgen haben", lautete das beunruhigende Fazit des Professors für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück.
El-Mafaalani kritisierte das deutsche Bildungswesen wiederholt scharf. "Die Gebäude sind genauso abgerockt wie das System insgesamt", sagte er und erläuterte zudem, wer langfristig am meisten unter den Folgen der Pandemie-Einschränkungen zu leiden haben könnte. Je jünger und je benachteiligter die Kinder seien, umso drastischer und stärker könnten sich die pandemiebedingten Schäden auswirken. Benachteiligt seien auch Kinder "im ländlichen Raum, "wo die ganzen Förderangebote, die ganzen Ausgleichsangebote unter Umständen nicht so gut ankommen".
Migrantenkinder, die bisher nur in der Schule Deutsch gelernt hätten, weil zu Hause niemand Deutsch spreche, seien ebenfalls überdurchschnittlich betroffen. Generell würden Kinder aufgrund des größeren Anteils ihrer Lebenszeit, den die Pandemie ausmache, die Situation "viel bedrückender" wahrnehmen.
Wie die anderen Beiträge ließen auch die Ausführungen des Bildungsexperten wenig Raum für Optimismus. Bevor der aufkommen kann, muss wahrscheinlich erst einmal das Ende der Pandemie und ihrer Auswirkungen auf den Schulbetrieb in Sicht kommen. Davon aber kann noch nicht die Rede sein.
- "Markus Lanz" vom 10. Februar 2022