Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Talk bei "Markus Lanz" Stiko-Chef Mertens überrascht: "Empfehlen Booster ab 18 Jahren"
Die Stiko wird offenbar ihre Booster-Empfehlung ändern. Das kündigte ihr Vorsitzender überraschend bei "Lanz" an. Ein führender FDP-Politiker schließt die Impfpflicht für bestimmte Berufe nicht mehr aus.
Beim Boostern ist 18 das neue 70: Die Ständige Impfkommission (Stiko) senkt offenbar die Altersgrenze, ab der sie zur Auffrischungsimpfung rät. Bislang war die erneute Spritze für nach bisheriger Auffassung vollständig immunisierte Menschen von dem Expertengremium ab 70 Jahren empfohlen worden. Das war das bestimmende Thema bei "Markus Lanz".
Die Gäste
- Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission
- Alexander Graf Lambsdorff, außenpolitischer Sprecher der FDP
- Christina Berndt, Journalistin der "Süddeutschen Zeitung"
- Muriel Kalisch, "Spiegel"-Redakteurin
Angesichts der sich zuspitzenden Lage wollte Markus Lanz am Dienstagabend vom Stiko-Vorsitzenden Thomas Mertens wissen: "Wann kommt die neue Ansage zu Boostern?" "Wir werden morgen wieder über die nächste Empfehlung beraten und es wird es nicht lange dauern und dann wird die von Ihnen reklamierte Empfehlung auch kommen", erwiderte der Virologe. Und wollte schon weitersprechen, als ihn Lanz in gewohnter Manier unterbrach. Dieses Mal lohnte es sich. "Runter wie weit?", fragte der Gastgeber. Mertens zögerte, dann verkündete er: "Bis 18."
Das kurze Innehalten hatte einen guten Grund. "Das ist jetzt auch wieder gegen die Regeln, denn normalerweise äußern wir uns dazu nicht", kommentierte der Stiko-Chef seine eigene Indiskretion. "Sehen Sie es mir nach, dass es ich es nicht bedauere, dass Sie es trotzdem tun", freute sich Lanz. "Klar. Ich habe es auch gemacht deshalb", meinte Mertens.
Stiko ändert Booster-Empfehlung
Die scheinbare Diskrepanz zwischen der Ab-70-Empfehlung der Stiko und dem Recht von Corona-Geimpften, nach sechs Monaten eine Auffrischung zu erhalten, hatte in den vergangenen Wochen für Verunsicherung gesorgt. Mertens betonte: Im Grunde seien die Empfehlungen der Stiko und die der Gesundheitsminister der Länder nach sofortigen Booster-Impfungen identisch. Denn da die Ältesten in Deutschland zuerst geimpft worden seien, seien sie nun mal auch als Erste bei den Auffrischungen an der Reihe.
"Aber warum sagen Sie dann nicht dasselbe, wenn Sie doch im Grunde dasselbe meinen?", prangerte Lanz zum wiederholten Male die Kommunikationsdefizite während der Pandemie an. Hier wehrte sich der Stiko-Chef ungewohnt deutlich. "Das habe ich Herrn Spahn genau so gesagt", stellte Mertens klar. "Warum sagen wir es nicht sozusagen so, wie wir es meinen?" – nämlich, dass zunächst die besonders Schutzbedürftigen eine Booster-Spritze erhalten sollen: "Und das sind nun mal die Alten." Der Bundesgesundheitsminister habe aber lieber bei der Formulierung mit der Sechs-Monatsfrist bleiben wollen.
Zur aktuellen Pandemielage sagte der Virologe bei "Markus Lanz": "Sie ist leider sehr viel schlechter, als sie sein müsste." Denn es sei nicht gelungen, genügend Menschen von einer Impfung zu überzeugen. Die derzeitige Quote von rund 70 Prozent reiche bei weitem nicht und auch die im Sommer ausgegebenen Zielmarken seien mittlerweile zu niedrig angesetzt, um eine Überlastung der Krankenhäuser zu verhindern. "Wir müssen sicher irgendwo um 90 Prozent oder besser noch darüber. Je höher, desto besser", stellte Mertens klar.
Impfpflicht doch mit der FDP?
Wie schnell in der vierten Welle Leitlinien geändert werden können, zeigt sich womöglich auch bei der FDP. Deren Generalsekretär Volker Wissing hatte am 7. November im "Handelsblatt" festgehalten: "Keine Impfpflicht mit der FDP" – auch nicht für bestimmte Berufe". Über diese laut Wissing "gefährliche Debatte" sagte sein Parteifreund Alexander Graf Lambsdorff nun bei Lanz: "Ich bin dafür offen." Mit Blick auf Alten- und Pflegeheime bekräftigte der Liberale: "Ich finde, man kann eine einrichtungsbezogene Impfpflicht durchaus diskutieren." Er wollte eine solche Auflage nicht ausschließen und sah darin keine unzumutbare Verschärfung der Arbeitsschutz- und Hygieneregeln. Allerdings stelle sich die Frage, ob dann eventuell Personal kündigen könnte.
Drama an der Belarus-Polen-Grenze
Das zweite Thema des Abends war die Flüchtlingskrise an der Grenze zwischen Belarus und Polen. "Spiegel"-Redakteurin Muriel Kalisch war gerade von dort zurückgekehrt und schilderte das staatlich sanktionierte Schleusersystem. 2.500 US-Dollar für ein Visum, 1.000 Euro für den Flug nach Minsk (insgesamt rund 3.100 Euro) – zu diesem Preis beginne für viele Menschen aus dem Irak oder Somalia der Leidensweg ins Grenzgebiet, nachdem ihnen von Schleuserbanden eine problemlose Reise in die EU versprochen worden sei.
Manche Geflüchtete irren laut der Journalistin seit Wochen hungernd und frierend durch die Wälder. Die polnischen Grenzschützer seien meist freundlich und würden den Menschen etwas zu trinken geben, sie dann aber zurückschicken. "Brutal sind die belarussischen Soldaten", sagte Kalisch. Sie würden die von Machthaber Alexander Lukaschenko angelockten Menschen schlagen, ausrauben, Hunde selbst auf Kinder hetzen und die Geflüchteten dann wieder in Richtung Polen drängen: "So wird Pingpong gespielt mit diesen Menschen."
Warschau hat Angst vor Putin
Außenexperte Lambsdorff warnte davor, wegen des harten Vorgehens des EU-Mitglieds Polen mit dem Finger auf unseren Nachbarn zu zeigen. "Polen ist Opfer einer Aggression", sagte der FDP-Politiker, der eingangs von Lanz als möglicher nächster Außenminister vorgestellt worden war (woraufhin Lambsdorff den Kopf schüttelte). Die Härte Polens sei auch eine Folge der Angst, Teil einer neuen, festen Flüchtlingsroute oder gar Opfer einer militärischen Aggression seitens Russlands zu werden. Denn in Polen und auf dem Baltikum werde der Verdacht gehegt, dass Lukaschenko nichts ohne Erlaubnis aus Moskau tut.
"Mir wurde in Warschau gesagt, man vermutet, dass Putin hinter der ganzen Operation steckt. Ich habe dafür allerdings keine Belege gesehen", berichtete Lambsdorff. Als dann bei einer militärischen Übung am westlichsten Teil von Belarus plötzlich auch noch russische Fallschirmjäger aufgetaucht seien, hätten in Warschau und Vilnius erst recht die Alarmglocken geläutet. "Das heißt, sie haben Angst, dass ihnen das droht, was in der Ukraine passiert ist?", fragte Lanz. "Exakt", antwortete der Liberale.
- "Markus Lanz" vom 16. November 2021