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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die reale Angst der Juden Antisemitische Übergriffe – und was kommt dann?
Nach antisemitischen Demonstrationen fordern Politiker härteres Durchgreifen gegen Täter. Die Justiz sagt: Wir tun schon alles. Doch eine Jüdin findet, das seien alles leere Versprechen.
Unter den Schuhen knirscht zerbrochenes Glas, hasserfüllte Menschen rufen antisemitische Parolen und halten Plakate in die Luft, auf denen anti-israelische Parolen stehen. Der Frühling 2021 beginnt in Deutschland nicht sommerlich warm, sondern politisch kühl.
Judith Reznik ist 20 Jahre alt, wurde in Berlin geboren, ist Studentin und Jüdin. Sie trägt sichtbar eine Kette mit einem Davidstern um den Hals. Am Sonntag ist sie deshalb in einem U-Bahnhof in Berlin angefeindet worden. "Juden hier raus" rief ihr ein Mann entgegen, als sie gerade aus der Bahn stieg. "Da war ich so perplex, dass ich nur 'Bitte?' gefragt habe", erzählt sie t-online. Die Antwort des Mannes sei ein hämisches Grinsen gewesen.
Nach antisemitischen Vorfällen bei Demonstrationen in ganz Deutschland haben Spitzenpolitiker am Wochenende schärfere Konsequenzen gefordert. Innenminister Horst Seehofer erklärte etwa, man werde mit "voller Härte" gegen antisemitischen Hass vorgehen.
Aber was heißt das genau? Wird ein neues Gesetz entwickelt, das Taten mit antisemitischem Hintergrund stärker ahndet? Konkrete Aussagen dazu gibt es nicht. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, arbeitet an einer nationalen Strategie gegen Antisemitismus. Auf eine Anfrage von t-online, was diese beinhalten solle und welche konkreten Vorschläge es gebe, reagierte er nicht.
59 Festnahmen in Berlin
Die schwersten Krawalle hatte es am Samstag in Berlin gegeben. Von 150 Menschen sei die Identität aufgenommen, 59 seien verhaftet worden, erklärt ein Sprecher der Berliner Polizei t-online. Zu den Vorwürfen gegen diese Menschen zählen Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz, aber auch gefährliche Körperverletzung. "Ob dann eine Strafanzeige aufgenommen wurde oder eine Ordnungswidrigkeit festgestellt wurde, war von Fall zu Fall verschieden", so der Pressesprecher. Was aufgenommen wurde, werde an Staatsanwaltschaft oder das zuständige Gesundheitsamt weitergegeben.
"Jüdinnen und Juden in Deutschland haben das Vertrauen in den Staat verloren", sagt Judith Reznik. Nach der antisemitischen Beleidigung im U-Bahnhof sah sie auf dem Weg nach Hause auch noch ein angesprühtes Hakenkreuz auf einem Altkleidercontainer. Normalität in Deutschland? "Ruhig und sicher war es nie“, auch nicht 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Für Juden in Deutschland sei es selbstverständlich, den Davidstern in bestimmten Gegenden nicht offen zu zeigen. "Es wird im Moment für alle angsteinflößender", beobachtet die Studentin.
Was bringt die Strafverfolgung von Taten wie diesen, wenn sie doch immer wieder geschehen? Martin Steltner, Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Berlin, ist nicht bekannt, dass es zu schwerwiegenden antisemitischen Übergriffen in Berlin gekommen ist.
Er ist sich sicher, dass konsequente Strafen etwas bringen und vor allem Mitläufer zum Nachdenken bewegen können. "Es ist eine grundsätzliche Frage, ob Strafverfolgung solche Taten verhindern kann. Straftaten müssen für eine Verurteilung genau dokumentiert und beweisbar sein." Steltner sagt zu den Demonstrationen am Wochenende: "Diese Bilder aus Deutschland sind peinlich." Volksverhetzung sei ein Meinungsäußerungsdelikt, das auch konsequent geahndet werde. Aber er stellt auch klar: "Aufgabe der Strafjustiz ist nicht die politische Gestaltung und nur mittelbar der Schutz vor zukünftigen Straftaten. Aufgabe der Strafjustiz ist die Aufklärung und Verfolgung bereits begangener Straftaten."
Antisemitismusbeauftragte: "Im Rahmen des Gesetzes können wir handeln"
Die Bundesregierung hat schon vor mehr als 20 Jahren eine Fachabteilung für Hasskriminalität gegründet. Seit September 2019 gibt es in der Generalstaatsanwaltschaft eine Antisemitismusbeauftragte. Claudia Vanoni kennt die antisemitischen Übergriffe der vergangenen Jahre genau. "Es gibt in Deutschland den Straftatbestand der Volksverhetzung. Das ist in anderen Ländern, wie etwa in den USA, nicht so", erklärt sie. Bei Straftaten wie zum Beispiel einer Körperverletzung spiele ein antisemitisches Motiv bei der Strafzumessung eine erhebliche Rolle. "Das Gesetz legt den Strafrahmen fest, und in diesem Rahmen kann die Justiz handeln", sagt sie t-online.
Begeht ein jugendlicher oder heranwachsender Mensch eine antisemitische Straftat, so kann das Gericht erzieherisch auf ihn einwirken und ihn zum Beispiel zur Teilnahme an einem Bildungsprogramm zum Thema Antisemitismus verpflichten. Bei erwachsenen Menschen sind solche Weisungen nur eingeschränkt bei Verhängung von Bewährungsstrafen möglich. Vanoni ist sich sicher: "Wir haben gute Möglichkeiten, antisemitische Straftaten angemessen zu ahnden."
Bei vielen Taten, die etwa anonym im Internet begangen werden, sei es jedoch schwer, den wahren Täter zu ermitteln. Etwas, das auch die Jüdin Judith Reznik schon oft erlebt hat. "Durch soziale Medien ist Antisemitismus gesellschaftsfähiger geworden. Viele Taten bleiben unentdeckt", sagt sie. Viele Menschen würden außerdem falsche Informationen verbreiten, ohne die Quelle zu hinterfragen. Reznik weiß auch aus ihrem persönlichen Umfeld, dass viele Übergriffe nicht zu einer Anzeige gebracht würden, weil die Meinung vorherrsche, dass es ohnehin nichts bringe.
Die Antisemitismusbeauftragte der Generalstaatsanwaltschaft will genau mit diesem Bild aufräumen. "Wir wollen diesem Eindruck entgegenwirken, wir gehen mit aller Konsequenz gegen solche Straftaten vor", sagt sie. Bei dem Straftatbestand der Volksverhetzung drohen etwa bis zu fünf Jahre Freiheitsstrafe, es komme aber dabei auf den einzelnen Fall und die Umstände an.
Expertin für Radikalisierung: "Härtere Bestrafungen ändern nichts"
Was fordern die Politiker also genau? "Härtere Bestrafungen ändern nichts", findet Claudia Dantschke. Sie ist Expertin für islamistische und dschihadistische Radikalisierung und Deradikalisierung, leitet außerdem die Beratungsstelle "Grüner Vogel". Diese gehört zum Netzwerk der Beratungsstelle Radikalisierung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF). "Mit dem Strafrecht kommt man einer Lösung nicht näher. So richtig es einerseits ist, deutliche Zeichen zu setzen. Härtere Bestrafung ändert nichts: In der Szene steigt der Status derjenigen noch, die bestraft werden, die sich als Märtyrer präsentieren", sagt sie t-online. "Wir wissen das seit vielen Jahren, wir sehen ja keine neue Entwicklung aktuell. Jetzt wäre der Moment gekommen, wo wir stärker handeln müssen, wo wir versuchen müssen, wirkungsvoll an die Jugendlichen ranzukommen, in Schulen und Jugendeinrichtungen, aber auch an Eltern."
Attacken gegen Juden seien nie akzeptabel, aber es brauche verschiedene Ansprachen. Für Menschen mit palästinensischem Hintergrund, die familiäre Beziehungen und eigene Fluchterfahrungen hätten, brauche es einen Ansatz. "Und es braucht einen anderen Ansatz bei Türken, die darauf anspringen, wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Bilder aus Gaza nutzt, um grundierten Israelhass abzurufen und zu nähren, weil er von innenpolitischen Problemen ablenken will", erklärt Dantschke t-online.
Schäuble: Demo-Bilder sind "unerträglich"
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble nannte die Bilder vom Wochenende "unerträglich". Natürlich dürfe man die Politik Israels scharf kritisieren und dagegen laut protestieren – "aber für Antisemitismus, Hass und Gewalt gibt es keine Begründung", sagte der CDU-Politiker der "Bild"-Zeitung. Deshalb brauche es "die ganze rechtsstaatliche Härte gegen Gewalttäter, und es braucht den größtmöglichen Schutz für die jüdischen Gemeinden und Einrichtungen", betonte der Bundestagspräsident. Er mahnte zugleich: "Wer sich in seinem Protest nicht eindeutig davon abgrenzt, wenn das Existenzrecht Israels angegriffen wird, macht sich mitschuldig."
Judith Reznik ist sich sicher: "Antisemitismus in Deutschland war nie weg." Sie wünscht sich, dass die Politik das Thema noch ernster nimmt und leere Phrasen wie "das ist ein Angriff auf uns alle" sein lässt. Das sei es keineswegs.
- Eigene Recherche
- Gespräch mit der Pressestelle Polizei Berlin
- Pressemitteilung Polizei Berlin: Demonstrationen in Kreuzberg und Neukölln
- Gespräch mit Martin Steltner, Pressesprecher Staatsanwaltschaft Berlin
- Gespräch mit Judith Reznik
- Gespräch mit Claudia Vanoni, Antisemitismusbeauftragte der Staatsanwaltschaft Berlin
- Gespräch mit Claudia Dantschke, Expertin für islamistische und dschihadistische Radikalisierung und Deradikalisierung und Leiterin der Beratungsstelle "Grüner Vogel"
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa