Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas wird 90 – und schreibt noch immer
Auch im hohen Alter ist der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas höchst produktiv. Am 18. Juni wird der intellektuelle Weltstar 90 Jahre alt – und arbeitet an einem neuen Buch.
Es soll im Herbst erscheinen und stattliche 1.700 Seiten umfassen, wie der Suhrkamp Verlag berichtet. "In diesem Werk werden wir alle seine intellektuelle Brillanz noch einmal von einer ganz anderen Seite kennenlernen", sagt der Frankfurter Philosophie-Professor Matthias Lutz-Bachmann, der Teile des Werks schon vorab lesen durfte: "Ein ganz wichtiger Baustein seiner Theorie."
Jürgen Habermas wurde in Düsseldorf geboren, heute lebt er im bayerischen Starnberg, am engsten verbunden ist sein Name aber mit Frankfurt am Main. Als Vater der Kritischen Theorie war er wichtiger Impulsgeber der Frankfurter Schule. Promoviert hatte er in Bonn mit einer Arbeit über den Philosophen Schelling (1775-1854). Habilitiert wurde er 1961 in Marburg – seine Habilitationsschrift "Strukturwandel der Öffentlichkeit" gilt bis heute als bahnbrechend.
Für die 68er war Habermas ein wichtiger Bezugspunkt
1964 übernahm er von Max Horkheimer (1895-1973) den Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt, den er zunächst bis 1971 innehatte – in der Zeit der Studentenproteste. Viele 68er beriefen sich auf ihn und sahen ihn als geistigen Impulsgeber, doch als die Bewegung sich radikalisierte, übte Habermas offen Kritik an ihr.
In den 1970er Jahren arbeitete er an zwei Max-Planck-Instituten in Bayern, bevor er 1983 nach Frankfurt zurückkehrte, wo er bis zu seiner Emeritierung 1994 blieb. In seinem Hauptwerk "Theorie des kommunikativen Handelns" entwarf er eine Art Handlungsleitfaden für die moderne Gesellschaft. Seiner Theorie zufolge liegen die Norm setzenden Grundlagen einer Gesellschaft in der Sprache. Als Verständigungsmittel ermögliche sie erst soziales Handeln.
Stumm ist Habermas auch im hohen Alter nicht
Die Strahlkraft seines Werks wirkt bis heute fort. Noch 2019 setzte ihn das Magazin "Cicero" nach Peter Sloterdijk auf Platz zwei der wichtigsten Intellektuellen im deutschsprachigen Raum. Dazu trägt auch bei, dass Habermas sich regelmäßig zu aktuellen politischen Themen äußert. Mit 89 Jahren erhielt er den Deutsch-Französischen Medienpreises für sein Engagement für ein demokratisches Europa.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nannte Habermas eine "Stimme der kritischen Vernunft, die weit über Deutschland hinaus in der ganzen Welt Gehör gefunden hat". Er sei ein "Aufklärer, der die Abgründe der Moderne durchmessen hat, ohne den bleibenden Anspruch einer Emanzipation des Menschen aufzugeben", erklärte Steinmeier in einem Glückwunschschreiben am Montag.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) würdigte Habermas als ebenso kritischen wie streitbaren öffentlichen Intellektuellen. Er habe den Kurs der großen gesellschaftspolitischen Debatten der Nachkriegsjahrzehnte maßgeblich mitbestimmt. "Dabei war Ihr Wirken stets geprägt vom Eintreten für Demokratie, für Meinungsfreiheit und für die Kraft der Vernunft", schrieb Grütters. Bis heute habe Habermas' Stimme großes Gewicht.
Zu seinem 90. Geburtstag lässt sich Habermas nicht interviewen
Habermas verkörpere die Rolle des politischen Intellektuellen "quasi in persona", sagt der Potsdamer Habermas-Experte Roman Yos: "Wann immer es um den Zustand nationaler Befindlichkeiten oder um die Gegenwart und Zukunft Europas schlecht bestellt schien, durfte man mit seiner öffentlichkeitswirksamen Wortmeldung rechnen", schreibt Yos im Vorwort zu seinem Buch. Zum 90. gibt Habermas allerdings keinerlei Interviews, wie er über seinen Verlag ausrichten ließ.
Dafür wird man bald viel von ihm lesen können: Unter dem tiefstapelnden Titel "Auch eine Geschichte der Philosophie" geht es in dem angekündigten zweibändigen 1.700-Seiten-Werk um nichts weniger als Glauben und Wissen. "Habermas zeichnet nach, wie sich die Philosophie sukzessive aus ihrer Symbiose mit der Religion gelöst und säkularisiert hat", kündigt der Verlag an.
Cambridge gibt ein eigenes Habermas-Lexikon heraus
Im Jubiläumsjahr erscheint nicht nur ein neues Buch von Habermas selbst: Auch zahlreiche Bücher über sein Denken, sein Werk, seine Bedeutung und seine Wirkung kommen in die Buchhandlungen. An "Habermas global. Wirkungsgeschichte eines Werks" haben rund 30 Autoren aus 15 Ländern mitgearbeitet. Roman Yos beschäftigt sich in "Der junge Habermas" mit der ideengeschichtlichen Untersuchung seines frühen Denkens. Bei der Cambridge University Press bekommt Habermas ein eigenes Lexikon mit 200 Einträgen.
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Einen Tag nach seinem Geburtstag will Habermas nach Frankfurt kommen, wie Lutz-Bachmann berichtet. Er werde einen Vortrag am Institut für Philosophie der Goethe-Universität halten. Im November will er das Frankfurter Institut für Sozialforschung besuchen, das in diesem Jahr sein 100-jähriges Bestehen feiert. In Frankfurt lagert bereits sein sogenannter Vorlass: 2010 überließ Habermas 16 Regalmeter Manuskripte und Briefe der Frankfurter Universitäts-Bibliothek.
- Nachrichtenagentur dpa