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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Holocaust-Überlebender im Bundestag "Wir alle hoffen, dass Sie für die wahre Demokratie kämpfen"
Der Bundestag gedenkt der Opfer des Nationalsozialismus. Der Holocaust-Überlebende Saul Friedländer ruft Deutschland auf, auch heute gegen Rassismus und Nationalismus zu kämpfen.
Als er sechs Jahre alt war, musste Saul Friedländer aus seiner Heimatstadt Prag nach Frankreich fliehen. Wegen der Nazis. Als er noch nicht zehn Jahre alt war, ließen ihn seine Eltern dort allein zurück, weil sie die weitere Flucht in die Schweiz für zu gefährlich hielten. Wegen der Nazis. Nur wenig später waren seine Eltern tot, ermordet im deutschen Vernichtungslager Auschwitz, und Saul Friedländer allein auf der Welt. Wegen der Nazis.
Heute, 74 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, sprach Saul Friedländer im Deutschen Bundestag in der Gedenkstunde, mit der an die Opfer des Holocausts erinnert wird. Friedländer ist inzwischen 86 Jahre alt, lebt in Israel und ist ein renommierter Historiker. Das Thema seiner Forschung: Die Nazis und der Holocaust.
Ein Appell an Deutschland
Friedländer nutzte seine Rede für einen Appell an das heutige Deutschland. Dank seiner Wandlung seit dem Krieg sei Deutschland eines der Bollwerke gegen die Gefahren des Antisemitismus, Fremdenhasses, Autoritarismus und Nationalismus geworden, sagte er. "Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standhaftigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum: für die wahre Demokratie zu kämpfen."
Der Appell kam nicht aus dem Nichts. Friedländer zeichnete ein düsteres Bild der Gegenwart. Da sei der wachsende Antisemitismus. "Wie immer schon sind alte und neue Verschwörungstheorien im Umlauf, vor allem bei den Rechtsradikalen." Wohingegen die antisemitische Linke in ihrem Hass die israelische Politik obsessiv angreife und dabei zugleich das Existenzrecht Israels infrage stelle. Kritik an Israel sei erlaubt, machte Friedländer deutlich, auch er kritisiere die Politik der Regierung. Das Ausmaß der Angriffe sei aber "schlicht absurd".
Doch der Antisemitismus sei eben nur eine der Geißeln der Gegenwart. Da seien der Fremdenhass, die Verlockungen autoritärer Herrschaft und der sich immer weiter verschärfende Nationalismus. Sie seien alle "überall auf der Welt in besorgniserregender Weise auf dem Vormarsch".
Schäuble: Erinnerungspolitik ist staatliche Aufgabe
Davor warnte auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der vor Friedländer sprach. Es gebe in Deutschland "Antisemitismus in unterschiedlichem Gewand, einen alten, aber auch einen neuen zugewanderten. Beides ist inakzeptabel, erst recht in Deutschland", sagte er. "Es beschämt uns, dass Juden wieder mit dem Gedanken spielen auszuwandern."
Es brauche im Alltag Gegenwehr gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung aller Art. Schäuble nahm aber explizit auch den Staat in die Pflicht. "Der Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Antwort auf die Erfahrung, dass die Würde des Menschen millionenfach verletzt und geschändet wurde."
Die Erinnerungskultur gehöre zu den staatlichen Aufgaben, sagte Schäuble. "Und wer daran rütteln wollte, legt Hand an die Grundfesten dieser Republik." Da dürfte die AfD aufgehorcht haben, hatte doch etwa Björn Höcke eine "erinnerungspolitische Wende um 180 Grad" gefordert und von einer "dämlichen Bewältigungspolitik" gesprochen.
Verwaltungsakte und Tagebucheinträge
Schäuble würdigte Friedländer als "herausragenden Wissenschaftler, der unser Verständnis des Holocausts immens erweitert und vertieft hat". Als einen Historiker, der Verwaltungsakte genauso wie Tagebucheinträge, abstrakte Statistik genauso wie Erinnerungen von Zeitzeugen in seine Forschung einbeziehe.
Besonders eindrücklich geriet Friedländers Rede dann auch, als er von dem Schicksal seiner Familie berichtete. Er erzählte, wie ihn seine Eltern nach der gemeinsamen Flucht aus Prag in Frankreich in einem abgelegenen Kinderheim verstecken wollten. Wie dann auch dorthin die Polizei kam, um jüdische Kinder abzuholen, alle ab zehn Jahren. Und wie er selbst nur davonkam, weil sein zehnter Geburtstag erst in wenigen Monaten anstand.
Und er erzählte, wie seine Eltern sich dann allein in die Schweiz aufmachten, nachdem sie ihn im zweiten Versuch in einem katholischen Internat untergebracht hatten. Wie die schweizerische Grenzpolizei sie an der Grenze aufgriff und zurückschickte. Die besondere Tragik: Ausgerechnet in dieser Woche habe die Schweiz Ehepaaren mit Kindern erlaubt, im Land zu bleiben. Anders als kinderlosen Paaren. "Wäre ich dabei gewesen, hätten wir bleiben dürfen." Und auch seine Eltern hätten eine Chance gehabt, zu überleben.
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Doch die Nazis haben sie ermordet. So wie sechs Millionen andere Juden, Hunderttausende Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuelle und Regimegegner.
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