Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Gastbeitrag "... dann gelte ich gerne als linksgrünversifft"
Er lebt auf dem Land, ist seit 42 Jahren in der CDU, katholisch – und bekommt plötzlich zu hören, er sei "linksgrünversifft". Der Westerwälder Udo Herkenroth hat das öffentlich gemacht und einen Nerv getroffen.
Es ist ein Symptom für den Wandel im politischen Klima: Einem langjährigen CDU-Mitglied mit christlicher Haltung wird von einem Nachbarn gesagt, er sei "linksgrünversifft". Der Westerwälder Architekt Udo Herkenroth hat das in 244 Zeichen auf Twitter öffentlich gemacht und enorme Resonanz bekommen. Für t-online.de schildert er in einem Gastbeitrag, was ihn zu der Nachricht bewegt und welche Reaktionen er erlebt hat:
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Das war mein Tweet. Wie kommt es, dass eine solch eher simple Aussage öffentliche Beachtung findet und große Eigendynamik entwickelt? Schon nach 10 Stunden waren es 800 Likes, am Mittwoch fast 6.000 Likes und fast 900 Retweets, dazu kommentierten über 1.000 Nutzer.
Offensichtlich steckt in dieser kurzen Nachricht etwas, was die Leute berührt und ihren Nerv trifft. Aber eigentlich habe ich dort doch nur etwas geschildert, was vielen von uns täglich passieren kann.
Udo Herkenroth ist 57 Jahre alt, seit 35 Jahren verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Er pendelt täglich aus dem Westerwald nach Frankfurt/Main und arbeitet dort als Architekt bei einem Verkehrsbetrieb.
Es war noch nicht einmal eine Begegnung mit einem offenkundigen Nazi oder Parteigänger einer rechten oder rechtsextremen Partei – Begriffe, die ich sowohl im Ausgangstweet wie auch danach nicht genutzt habe. Es war ein alltägliches Nachbarschaftsgespräch über den Gartenzaun hinweg, bei dem der Begriff fiel.
Flüchtlingspolitik verteidigt
Über das Fußballspiel des Vorabends mit Kroosʾ Freistoßtor und das Wetter der nächsten Tage kam man schnell auf die aktuelle politische Lage in Deutschland. Merkel, Seehofer, Söder, Flüchtlinge. Ich verteidigte Merkels Flüchtlingspolitik und die deutsche Willkommenskultur und missbilligte die populistischen Ansätze vieler politischer Wegbegleiter.
Und irgendwann fiel dann dieser Satz: "Meine Güte, du bist ja sowas von linksgrünversifft." Ich antwortete: "Wenn du das, für was ich stehe, so nennst, unsere Freiheit, unsere Freizügigkeit, unsere Demokratie, unsere Werte, dann gelte ich gerne als linksgrünversifft."
Dass ich das Zitat für den Tweet mit meiner Herkunft, meiner Religion und meiner Parteizugehörigkeit in Verbindung brachte, sollte nur die Absurdität dieses Satzes hervorheben.
Mein Hinweis auf die braunen Ecken der Republik hat dabei keinen regionalen Bezug. Damit meine ich auch und besonders das, was sich offenbar in den Köpfen vieler unserer Mitmenschen und direkten Nachbarn abspielt.
Zustimmung über Parteigrenzen
Dass ich Zustimmung über alle Parteigrenzen hinweg erfahre, finde ich sehr bemerkenswert. Grüne, Linke, CDUler, SPDler, Liberale kommentierten, likten und retweeteten. Selbst "meine" Landtagsabgeordnete und "mein" Bundestagsabgeordneter der CDU, die beide auf Twitter vertreten sind, leiteten den Tweet an ihre Follower weiter.
Am beeindruckendsten neben den vielen positiven Kommentaren wie "Willkommen im Klub" oder "Danke. Weiter so" waren für mich die Berichte einzelner User, die noch weitergehende Erfahrungen bis hin zu Beschimpfungen und Bedrohungen erlebt haben. Zwischendurch war ich etwas skeptisch, ja fast ängstlich, ob die Diskussion und die Inhalte der Kommentare mir entgleiten.
Aber hier zeigte das Netz selbstregulierende Wirkung. Die zumeist positiven Kommentare, aber auch die wenigen Querschläger zeigen mir, dass es richtig ist und sich lohnt, für unsere offene und wertegeprägte Gesellschaft jenseits aller Parteienzugehörigkeiten aufzustehen, seine Meinung zu vertreten und den Mund aufzumachen.
Danke dafür.