Wächst die Armut wirklich? Kritik an Sozialverbänden nach neuer Studie
Die soziale Spaltung in Deutschland nimmt einer aktuellen Studie des Paritätischen Gesamtverbandes zufolge weiter zu. Doch es gibt auch Kritik an der Vorgehensweise bei solchen Berichten. Die Verbände hätten ihre ganz eigenen Interessen, moniert der Berliner Politikwissenschaftler Klaus Schroeder.
Laut dem Jahresgutachten des Paritätischen Gesamtverbandes zur sozialen Lage leben mittlerweile 15,5 Prozent der Menschen in Deutschland unter der Armutsgrenze, erklärte der Vorsitzende, Rolf Rosenbrock, bei der Vorstellung der Untersuchung. Der Bundesregierung bescheinigt die Studie Defizite in der Sozialpolitik.
"Alle volkswirtschaftlichen Erfolgsmeldungen können nicht über die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft hinwegtäuschen", sagte Joachim Rock, der Verfasser des Gutachtens, . Die Armutsquote sei erneut gestiegen, die Langzeitarbeitslosigkeit verfestige sich oberhalb der Millionengrenze, und die Kluft zwischen Arm und Reich werde immer tiefer - "und das alles trotz guter Konjunktur und wachsender Erwerbstätigkeit insgesamt".
Umstrittene Definition von Armut
Doch nicht alle teilen diese Einschätzung. Politikwissenschaftler Schroeder kritisiert die Definition von Armut bei den Verbänden, sieht irreleitende Messinstrumente und unterstellt den Sozialverbänden egoistische Motive bei ihren Bewertungen der Lage: "Die Sozialverbände, die solche Berichte machen, vertreten nicht nur die Interessen der Sozialschwachen, sie vertreten auch ihre eigenen Interessen."
Bereits in seinem Gutachten 2014, das der Verband vor fast genau einem Jahr vorgestellt hatte, beklagte er eine wachsende soziale Spaltung in Deutschland. Im Februar diesen Jahres hatte er dann einen Armutsbericht vorgelegt und das Fazit gezogen: "Die Armut in der Bundesrepublik Deutschland befindet sich auf einem historischen Höchststand."
Armut und Reichtum sind relative Größen
Schroeder hält dem entgegen: "Was in solchen Berichten gemessen wird, ist die Verteilung von Einkommen, aber nicht Armut." Der Leiter der Arbeitsstelle Politik und Technik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin wies darauf hin, dass in der Regel Angaben zur Armutsquote und zum Armutsrisiko gemacht würden. In Wohlstandsgesellschaften seien Armut und Reichtum immer nur relative Größen.
Laut Statistischem Bundesamt ist die Quote der von Armut gefährdeten Menschen der Anteil der Personen, der mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung auskommen muss. Schröder sagte: "Wer bis drei zählen kann, sieht: Wenn morgen alle das Doppelte hätten, wäre die Quote genauso hoch wie heute."
Massiv veränderte Sozialstruktur
Zudem habe sich die Sozialstruktur in den vergangenen Jahrzehnten massiv verändert, so der Sozialforscher. Mehr Menschen wie Senioren oder Alleinerziehende gelten demnach offiziell als von Armut gefährdet, auch wenn es vielen von ihnen unter dem Strich gar nicht so schlecht gehe.
"Verbänden, die auf diese Weise vor Armut warnen, geht es auch darum, ihre eigene Bedeutung in den Vordergrund zu rücken", kritisierte Schroeder. Diese Verbände selbst würden selten durchleuchtet.
Ein Grund, warum solche Berichte immer wieder auf Aufmerksamkeit stoßen, sei, dass sie moralisch daherkämen. "Alles, was moralisch aufgeladen ist, kommt gut an", sagte der Politikwissenschaftler, "jeder, der idealistisch eingestellt ist, hat den Impuls, etwas gegen Missstände zu tun". Oft gehe es bei solchen Darstellungen auch darum, politische Ziele nach mehr Umverteilung zu untermauern.