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Corona | Göring-Eckardt: "Verstehe alle, die das als ungerecht empfanden"


Interview
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Göring-Eckardt
"Ich verstehe alle, die das als ungerecht empfanden"

InterviewVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 27.12.2022Lesedauer: 7 Min.
Katrin Göring-EckardtVergrößern des Bildes
Katrin Göring-Eckardt (56, Grüne) ist Vizepräsidentin des Bundestags. (Quelle: Kay Nietfeld/dpa/dpa)

Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt räumt Fehler bei der Corona-Politik ein – und sieht dringende Hausaufgaben für die Spitzenpolitik.

t-online: Frau Göring-Eckardt, viele Experten hatten einen "Wutwinter" befürchtet. Warum sind die Deutschen trotz der hohen Inflation offenbar relativ entspannt?

Katrin Göring-Eckardt: Entscheidend war, dass die Bundesregierung gehandelt hat.

Das müssen Sie als Vertreterin einer Regierungspartei natürlich sagen.

Nein, ich sage das nicht, um uns selbst auf die Schulter zu klopfen, sondern weil ich es von Verantwortlichen vor Ort höre und in vielen Gesprächen, die ich in den Kommunen führe. Die meisten Bürger*innen haben das Gefühl: Die Lage ist zwar schwierig, aber die Regierung kümmert sich um uns.

Kümmern heißt allerdings auch, Geld mit der Gießkanne zu verteilen. Kommt die dicke Rechnung zum Schluss?

Das, was Sie Gießkanne nennen, war die einzige Möglichkeit, in kurzer Zeit flächendeckend Hilfe zu organisieren. Die Alternative wäre gewesen, Leute durchs Raster fallen zu lassen. Und was die Rechnung betrifft, werden die mehr dazu beitragen müssen, die es können.

Mit einem höheren Spitzensteuersatz? Oder einer höheren Erbschaftssteuer?

Über die Instrumente kann man gern streiten. Es geht darum, dass diejenigen mehr beitragen, die das können. So haben wir es auch auf unserem Parteitag beschlossen. Ich finde eine Vermögensabgabe in dieser Krisensituation angemessen.

Was bedeutet das konkret?

Ich bin bei den exakten Summen und der Wahl des Instruments nicht festgelegt.

Das heißt?

Wichtig ist, dass diejenigen sich mehr an der Finanzierung des Staates beteiligen, die das auch finanziell können. Bei den meisten Vermögenden gibt es im Übrigen auch eine große Bereitschaft dazu, ihren Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.

Das Argument der Kritiker lautet doch immer: Dann verlassen die Vermögenden das Land.

Das ist doch Lobbyisten-Sprech. Ich glaube an diese Szenarien nicht.

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Katrin Göring-Eckardt mit ihrem Lebensgefährten Thies Gundlach (Quelle: Eventpress Golejewski/imago-images-bilder)

Zum zweiten Mal Vize des Bundestags

Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt ist seit 2021 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags. Ein Posten, den sie bereits von 2005 bis 2013 inne hatte. Dazwischen war sie Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, erst mit Krista Sager, dann mit Anton Hofreiter. Die gebürtige Thüringerin, die einige Semester Theologie studierte, engagiert sich seit Jahren in der Evangelischen Kirche, ist unter anderem Mitglied der Synode.

Sie sagten, die Lage sei vergleichsweise entspannt, weil die Regierung sich kümmere. Aber warum ist die Gesellschaft dann so gespalten wie nie?

Ich halte die Gesellschaft nicht für gespalten. Der Großteil der Menschen ist solidarisch und bereit, die Krisen gemeinsam zu bewältigen.

Aber?

Es gibt zwei Gruppen, die man extra betrachten muss. Da sind zum einen diejenigen, die bewusst nicht dazu gehören und die Demokratie abschaffen wollen. Die "Reichsbürger" sind da nur die Spitze des Eisbergs. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die zwar dazu gehören wollen, sich aber abgehängt und nicht gesehen fühlen. Zum Beispiel, weil sie in Armut leben. Bei ihnen muss die Gesellschaft dafür sorgen, dass sie dazu gehören können.

Was schlagen Sie für den Umgang mit den beiden Gruppen konkret vor?

Denen, die dem Staat mit Terrorversuchen begegnen, muss man hart entgegentreten. Das ist völlig inakzeptabel. Für die anderen brauchen wir mehr Unterstützung – hier ist schon viel geschehen, mit Einmalzahlungen, Bürgergeld und Kindergelderhöhung. Aber es geht auch um Orte, wo Gemeinschaft stattfindet, Menschen da sind, die zuhören und helfen. Das können Vereine sein oder Angebote im Wohnviertel oder von den Kirchen oder auch die Telefonseelsorge.

Wie gefährlich sind die "Reichsbürger"? War der geplante Umsturz nur ein "Rollator-Putsch", wie AfD-Chefin Alice Weidel behauptet?

Nein, die "Reichsbürger" sind eine echte terroristische Bedrohung. Glücklicherweise hat sich der Staat als extrem widerstandsfähig bewiesen. Natürlich war es kein "Rollator-Aufstand". Die ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann hat keinen Rollator, sondern ist Richterin. Da steckt ein Netzwerk dahinter. Dass die AfD und Alice Weidel versuchen, dies zu verharmlosen, verstehe ich schon: Sie tun ja so, als seien sie die netten Menschen von nebenan. Wenn man im Bundestag ihre Reden hört, merkt man aber: In Wirklichkeit wollen sie unsere Gesellschaft und alles, was uns zusammenhält, zerstören. Sie versuchen, Menschen auseinanderzutreiben und auszugrenzen.

Viel Wut und Verbitterung gibt es bei Menschen, die die Pandemie als Phase massiver Ausgrenzung erlebt haben, weil sie sich nicht impfen lassen wollten. Sie fühlen sich auch von der Politik diskriminiert. Können Sie das nachvollziehen?

Die Pandemie war eine extrem schwierige Zeit. Ich kann für mich und für alle, die in der Spitzenpolitik in dieser Phase Verantwortung trugen, sagen: Wir haben immer danach geschaut, was das Beste und das Sinnvollste für die Menschen ist.

Sie waren für eine allgemeine Impfpflicht gegen Corona. Ein Fehler?

Das Problem war, dass es eine Impfpflicht für Pflegepersonal gab, aber nicht wie verabredet eine allgemeine Impfpflicht. Das war ein Fehler. Ich verstehe alle, die das als ungerecht empfanden. Ich finde auch, dass wir über Impfschäden sprechen müssen. Es gibt diese Fälle. Unterm Strich bleibt aber: Die Impfung hat uns aus der Pandemie herausgeführt.

Auch mit Blick auf den Ukraine-Krieg gibt es insbesondere in Ostdeutschland viel Unverständnis. Der Krieg sei auch durch Fehler des Westens provoziert, so die häufige Argumentation. Was sagen Sie als Ostdeutsche dazu?

Ich habe in Ostdeutschland viele Diskussionen geführt. Eine klare Mehrheit unterstützt die Ukraine-Politik der Bundesregierung. Die Fehler aus der Vergangenheit jetzt korrigieren zu müssen, ist wahrhaft hart. Die Abhängigkeit von russischem Gas und damit vom Autokraten Putin gehört dazu. Diese muss man aber der Vorgängerregierung zum Vorwurf machen, sowohl der CDU als auch der SPD, die mit ihr regiert hat.

Nicht wenige Bürger sind der Ansicht, dass wir uns raushalten sollten, weil es "nicht unser Krieg" sei?

Das ist Unsinn. Das ist ein Krieg Russlands gegen den Westen, gegen die demokratischen Gesellschaften, der in der Ukraine ausgetragen wird. Es ist der Versuch, Menschen auszuhungern, erfrieren zu lassen, ihre Kultur zu vernichten. Das kann und darf uns nicht egal sein.

Die Bundesregierung versucht sich in zurückhaltender Unterstützung. Man hilft, aber nur begrenzt und in enger Absprache mit den Bündnispartnern. Ist das zu zaghaft?

Wir müssen, können und sollten noch mehr tun. Es geht um Luftabwehr und humanitäre Hilfe. Davon wird entscheidend abhängen, ob die Menschen in der Ukraine diesen Winter überstehen. Dafür braucht es Generatoren, Kältemittel, funktionierende Wasserleitungen, aber auch Waffen. Die weiteren 50 Millionen Winterhilfe, die Außenministerin Annalena Baerbock angekündigt hat, sind ein erster Schritt. Die russische Offensive über Weihnachten zeigt noch einmal auf brutalste Weise: Um Leben in der Ukraine zu retten, braucht es dringend Panzer und Luftabwehrsysteme. Die USA gehen jetzt mit der Zusage von Patriot-Systemen voran. Die EU-Staaten sollten beraten, wie sie nachziehen können.


Quotation Mark

"Wir dürfen nicht unsere Landesverteidigung gegen Hilfen für die Ukraine ausspielen"


Katrin Göring-Eckardt


Die Bundeswehr ist in einem schlechten Zustand. Vor Kurzem kam heraus, dass alle Puma-Panzer, die eigentlich für eine Beteiligung an einer Nato-Eingreiftruppe vorgesehen waren, ausgefallen sind. Wir können uns also nicht mal selbst verteidigen – wie wollen wir da noch Panzer an die Ukraine liefern?

Wir dürfen nicht unsere Landesverteidigung gegen Hilfen für die Ukraine ausspielen. Wo jetzt gekämpft wird, muss alles hingeliefert werden. Das kann auch in Form eines Ringtausches passieren, wie wir ihn aktuell schon praktizieren. Unabhängig davon gilt: Der Zustand der Bundeswehr ist ein Desaster.

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Wie kann unsere Gesellschaft denn widerstandsfähiger werden?

Wir haben jahrelang auf Verschleiß gelebt. Bei der Klimapolitik, unserer kritischen Infrastruktur und der sozialen Sicherheit – und vielleicht auch bei der Nationalmannschaft. Wir müssen dringend die Grundlagen unserer Gesellschaft wieder herstellen und modernisieren. Zu sogenannten Resilienz gehören aber auch Kraft und Austausch. Die Menschen müssen das Gefühl haben, Heimat zu haben.

In früheren Krisenzeiten waren die Kirchen große Stabilitätsfaktoren. Inzwischen hört man wenig von ihnen – und wenn, sind es oft Skandale.

Ja, die mangelnde Aufarbeitung von Missbrauchsfällen ist insbesondere bei der katholischen Kirche ein wichtiges Thema. Aber die Kirchen darauf zu reduzieren, ist falsch. Allerdings erlebe ich auch, dass sie als große Institution gerade sehr mit sich selbst und ihrem Mitgliederschwund beschäftigt ist. Das ist dann aber die Katze, die sich in den Schwanz beißt: Kirche hat dann gesellschaftliche Relevanz, wenn sie etwas sagt und anbietet, was man sonst nicht bekommen kann. Beheimatung, Beziehung, das Gefühl behütet sein zu können in einer Welt, die die Seele schutzlos lässt und die Menschen oft allein.

Wie sinnvoll ist es, dass gerade die evangelische Kirche immer wieder politisch Stellung bezieht? So ließ die Synode gerade auf ihrer Jahrestagung nicht nur eine Vertreterin der umstrittenen "Letzten Generation" auftreten, sondern solidarisierte sich auch noch mit ihr.

Dass sich die evangelische Kirche – hier die Synode – mit Fragen der Zeit auseinandersetzt, finde ich absolut richtig. Das wird nicht allen gefallen, aber für andere ist es ein Grund, genau deshalb weiter Mitglied der Kirche zu sein. Viel wichtiger finde ich, dass die Kirche beim Klimaschutz nicht nur redet, sondern auch handelt. Da geht noch mehr. Zum Beispiel mit Solaranlagen auf allen Kirchendächern oder mit Windrädern auf Flächen, die der Kirche gehören. Da muss auch der Denkmalschutz zurückstehen. Die gesetzlichen Grundlagen dafür haben wir gerade geschaffen.

Die "Letzte Generation" greift zu radikalen Maßnahmen, um ihre Klimaziele durchzusetzen. Angefangen von Straßenblockaden bis hin zum Versuch, die Übertragung eines Weihnachtsgottesdienstes zu verhindern. Wie weit darf der Einsatz gehen?

Klimaschutz bedeutet die Einhaltung unserer Verfassung. Denn es gibt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das den Staat zur Herstellung von Klimaneutralität verpflichtet, um die Freiheit künftiger Generationen zu schützen. Ich teile die Hartnäckigkeit, aber nicht alle Protestformen der "Letzten Generation". Der Versuch, einen Weihnachtsgottesdienst zu stören, um Öffentlichkeit zu erreichen, wird gerade kontrovers diskutiert. Ich kann die kirchliche Entscheidung, die Generalprobe zu übertragen, gut nachvollziehen. Ich finde als Christin, der Weihnachtsgottesdienst kann ein Ort sein, der die Widerstandskraft gerade auch gegen die Klimakrise zu stärken hilft. Aber: Die Aktivisten bringen keine Menschenleben in Gefahr, wie manchmal behauptet wird. Dass CDU-Chef Friedrich Merz sie mit den "Reichsbürgern" gleichsetzt, ist absurd.

Dass aufgrund der Straßenblockaden der "Letzten Generation" Rettungswagen später zum Ziel kommen, finden Sie nicht problematisch?

Die Aktivisten tun alles dafür, damit sich Rettungsgassen bilden können. Ich finde die Debatte müßig angesichts der vielen Staus, die durch Autofahrer entstehen.

Was würden Sie der Spitzenpolitik ins Hausaufgabenheft für 2023 schreiben?

Dass wir bei den großen Transformationsprozessen nicht nachlassen dürfen – insbesondere beim Klimaschutz, aber auch bei der Unterstützung der Ukraine. Und ich würde jedem in der Spitzenpolitik den Spruch ans Herz legen wollen, dass man nur mit dem Herzen gut hört. Politikerinnen und Politiker haben einen Mund, aber auch zwei Ohren. Sie sollten im kommenden Jahr neben allem notwendigen Reden und Erklären mehr zuhören.

Verwendete Quellen
  • Videointerview mit Katrin Göring-Eckardt
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