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Zum journalistischen Leitbild von t-online.10,3 Prozent für die AfD Total fatal
Die AfD wird stärkste Kraft in zwei Bundesländern. Doch ihr Ergebnis im Bund ist ein Faustschlag für die Partei.
Tino Chrupalla ist am Montagmorgen früh auf den Beinen. Im dunkelblauen Anzug, mit Mini-Deutschlandfahne am Revers, steht der Co-Bundesvorsitzende der AfD in der Maske im TV-Studio von t-online und lässt sich abpudern. Fragen? "Sicher, gerne!", sagt er gut gelaunt und lächelt.
Ob das Wahlergebnis in seiner Partei Konsequenzen für das Spitzenpersonal haben wird, speziell für ihn und Alice Weidel? Entscheiden müsse natürlich die Fraktion, sagt Chrupalla. Aber die Zusammenarbeit mit Weidel sei gut, das Zusammenspiel aus Ost und West notwendig. "Wir werden als Fraktionsduo antreten."
Die AfD hat bei der Bundestagswahl 10,3 Prozent Zustimmung eingefahren. Anstatt das eigene Ergebnis zu feiern, feierte sie im Veranstaltungsort "La Festa" in Berlin-Marzahn auf ihrer Wahlparty lieber das Wahldesaster der Union. Angela Merkel habe die CDU nun "endgültig ruiniert", freute sich Alexander Gauland. Es folgte lauter Applaus von den wenigen AfDlern, die gekommen waren. Siegestaumel und tiefe Freude sehen anders aus.
Reihenweise Stimmverluste an "Altparteien"
Analysen zum eigenen Ergebnis wollte man am Sonntagabend vermeiden, lieber gar nicht zu groß darüber sprechen. Dafür sei es noch zu früh, man müsse die Datenanalysen abwarten, hieß es unisono. Vielleicht habe man die mehr als zwei Prozentpunkte Verlust im Vergleich zum Ergebnis 2017 ja an die "sonstigen", kleineren Parteien abgegeben. Eine Partei, wie die AfD es selbst bis vor Kurzem war. Das zumindest ist die Vermutung, die Hoffnung bei Fraktions- und Parteispitzen.
Am Tag darauf ist die Analyse da. In Sachsen und Thüringen ist die AfD stärkste Kraft geworden und hat so viele Direktmandate geholt wie noch nie. Allerdings ist die AfD im Osten schon länger stark, ihre Gewinne dort verwundern kaum.
Die Analyse zum Ergebnis im Bund ist ein Faustschlag für die AfD: Die Rechtsnationalen haben an alle anderen Parteien – bis auf die Linke – Wähler verloren: 260.000 an die SPD, mehr als 200.000 an die FDP, einige Zehntausende an die Grünen – und sogar 80.000 an die Union. Der große Konkurrent CDU, den man jagen wollte, verzeichnet zwar einen so großen Verlust wie noch nie. Am Ende aber ist die AfD eine der wenigen Parteien, die überhaupt nicht von der Schwäche der Konservativen profitieren können, sondern draufzahlen. Reihenweise Stimmenverluste an jene, die die AfD "Altparteien" schimpfen.
"Die Union stürzt ab – und die AfD verliert trotzdem Wähler an sie", sagt Politikberater Johannes Hillje t-online. "Sie bleibt damit weit hinter ihrem eigenen Anspruch zurück, der CDU im konservativen Spektrum Konkurrenz zu machen."
Cotar: "Corona ist kein Gewinnerthema für uns"
Einige in der AfD sehen es ähnlich und machen ihrer Unzufriedenheit Luft. Es ist vor allem die Fraktion der gemäßigteren West-AfDler. "Wir werden nicht als die Alternative wahrgenommen, als die wir hätten wahrgenommen werden können", sagt Joana Cotar, digitalpolitische Sprecherin der Fraktion, t-online. Zu stark habe die Partei zum Beispiel auf das Thema Corona gesetzt – dabei sei auch die AfD-Wählerschaft bei vielen Corona-Themen gespalten. Die eine Hälfte beispielsweise sei geimpft, die andere nicht. "Das ist kein Gewinnerthema für uns."
Drei-Sterne-General Joachim Wundrak, der mit Cotar gegen Weidel und Chrupalla um die Spitzenkandidatur kandidierte, findet es "bedenklich", dass die AfD so gar nicht von der aktuellen Unzufriedenheit im Land profitieren konnte. Der Berliner AfD-Fraktionsvorsitzende Georg Pazderski verpasst auf Platz vier der Landesliste den Einzug in den Bundestag. Er wettert gegen die Kampagne und den Slogan "Berlin, aber normal", der am Bundesslogan "Deutschland, aber normal" angelehnt ist: Es habe bei dieser Wahl nichts gegeben, was "provokant war, bei den politischen Gegnern und in den Medien Anstoß erregte, (…) und so erneut bürgerliche konservative Wähler über den Stammwählerkern hinaus mobilisieren konnte".
An der Spitze der gemäßigten Fraktion der AfD steht Co-Bundesvorsitzender Jörg Meuthen, der befindet: "Unter dem Strich wird man das als Erfolg nicht vermelden können."
Fragt man andere, die in der Partei zum radikaleren Teil gehören, fallen die Antworten anders aus. Von einem "guten, soliden Ergebnis" und einem "Wählerstock, auf dem man aufbauen kann" spricht Gottfried Curio, der sich in der vergangenen Legislatur einen Namen als einer der schärfsten Redner der Bundestagsfraktion gemacht hat. Co-Spitzenkandidatin Alice Weidel sagt, dass sie sich das Ergebnis "nicht schlecht reden lasse, von niemandem".
Tief zerstritten und "größtenteils unsichtbar"
Auf der Pressekonferenz am Montag, bei der Weidel und Meuthen gemeinsam auftreten, wird der alte Streit offenbar, der die AfD seit Langem zerreißt: Meuthen-Lager vs. Höcke-Freunde. Jene, die die AfD zur neuen, härteren CDU machen wollen. Und jene, denen es passt, wenn die Partei eher in Richtung NPD driftet.
Für Politikwissenschaftler Johannes Hillje ist das Wahlergebnis der AfD auch Resultat dieses Richtungsstreits. Die Partei habe sich darüber komplett zerstritten, der Vorstand sei fast handlungsunfähig – für Wähler sei das immer ein abschreckendes Bild. Ein zündendes Mobilisierungsthema habe der Partei außerdem gefehlt, im Wahlkampf sei sie deswegen "größtenteils unsichtbar" gewesen.
Dass sie es dennoch auf ein zweistelliges Ergebnis geschafft hat? "Bemerkenswert", sagt Hillje – und der Stammwählerschaft zu verdanken, die im Vergleich zu anderen Parteien deutlich größer sei. Knapp 50 Prozent der AfD-Wähler können sich Untersuchungen zufolge nicht vorstellen, eine andere Partei zu wählen.
"Der größte Gegner dieser Partei ist sie selbst"
Viel mehr also geht nicht für die AfD in diesem Zustand, sagt Hillje. Eine höhere Zustimmung wäre seiner Einschätzung nach allerdings möglich, wenn die AfD etwas mehr Geschlossenheit zeigen, weniger Skandale fabrizieren und gegen Extremismus vorgehen würde. "Der größte Gegner dieser Partei ist sie selbst."
Am Mittwoch schon steht in der Partei die nächste Wahl an: Die Fraktionsspitze wird neu gekürt. Mit Tino Chrupalla wird einer aus dem radikalen "Flügel"-Land Sachsen dann wohl seinen Einfluss ausbauen. Und mit Alice Weidel an seiner Seite eine kandidieren, die mit Höcke und den Radikalen schon lange einen Nichtangriffspakt geschlossen hat. Gemäßigte Konkurrenz? Derzeit nicht in Sicht.
Hillje glaubt nicht, dass noch eine Konkurrenz kommen wird oder in der direkten Konfrontation Aussichten auf Erfolg hätte. "Die Radikalen in der Partei sind zu gut organisiert." Statt einer aussichtsreichen Kandidatur aus dem Meuthen-Lager für weitere Ämter rechnet Hillje sogar bald mit Meuthens Abtritt. Der Machtkampf sei für ihn nicht mehr zu gewinnen.
- Eigene Beobachtungen und Analysen
- Gespräche mit Beatrix von Storch, Tino Chrupalla, Alexander Gauland
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