Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Schwachstelle im Wahlsystem Tausende Deutsche bleiben ausgeschlossen
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Unsere Autorin ist Auslandsdeutsche. Dennoch wollte sie bei dieser Bundestagswahl unbedingt wählen. Davor steht jedoch eine Besonderheit des deutschen Wahlsystems.
Ich muss es so deutlich sagen: Diese Bundestagswahl ist ein einziges Ärgernis. Eben groove ich noch voller Vorfreude aufs Kreuzchenmachen durch mein Haus, und dann? Totale Ernüchterung. Da erfahre ich nämlich, dass es nichts wird mit meiner Teilnahme am demokratischen Prozess in Deutschland. Weil meine Briefwahlunterlagen nicht rechtzeitig in Kanada angekommen sind.
Ich dachte eigentlich, Wählen sei ein Grundrecht. Das ist es auch, zumindest in der Theorie. In der Praxis sieht es für Auslandsdeutsche jedoch ganz anders aus. Wer jenseits der deutschen Landesgrenzen lebt, hat mit einem Wahlsystem zu kämpfen, das den Bürger systematisch im Stich lässt.
Wochenlang habe ich mir im Fernsehen Quadrelle, Duelle und Talkrunden angeguckt, mein Podcast-Feed besteht inzwischen nur noch aus politischer Dauerbeschallung. Als letzte Übung hatte ich auch noch alle Wahl-O-Maten unter der Sonne ausprobiert und war bis unter die Hirse mit politischen Informationen vollgestopft. Und was machte ich mit all dem Wissen? Nichts. Denn meine Stimme wurde bei dieser Wahl nicht gezählt. Wieder einmal. Das deutsche Wahlsystem hat für uns Auslandsdeutsche erneut seine eklatanten Schwachstellen offengelegt.
Wahlunterlagen im Flieger mitgenommen
Seit einigen Jahren lebe ich in Toronto und will auch dort meine demokratischen Rechte als Bundesbürgerin ernst nehmen. Als solche beantrage ich immer fristgerecht meine Briefwahlunterlagen – auch für diese vorgezogene Bundestagswahl. Ich stand sogar in regem Austausch mit der Beamtin des Wahllokals meiner letzten deutschen Wohnortgemeinde – an ihr lag es nicht, dass die Unterlagen so spät verschickt wurden.
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Zur Person
Stefanie Dreyer lebt seit acht Jahren in Toronto, Kanada, und arbeitet als freiberufliche Moderatorin und Journalistin. Die ehemalige Hamburgerin verfolgt die Trends der Tech-Welt und moderiert zahlreiche Veranstaltungen in diesem Bereich. Zuvor lebte sie in Japan, Kambodscha und Österreich.
Doch das allgemeine Prozedere? Katastrophal. Und bevor jetzt jemand einwendet, es handle sich um einen Einzelfall: Bereits zur Europawahl 2024 erhielt ich meine Stimmzettel erst zwei Wochen nach dem Wahltermin, obwohl ich sie frühzeitig beantragt hatte. Selbst bei der Bundestagswahl 2021 habe ich es nur deswegen geschafft, meine Stimme abzugeben, weil ich zu der Zeit zufällig nach Deutschland musste und die zuvor beantragten Unterlagen im Flieger mitnehmen und vor Ort noch rechtzeitig in den Briefkasten werfen konnte.
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Dann war da noch die Kostenfrage. Selbst wenn die Unterlagen ankommen – die reguläre Post braucht derzeit rund 18 Tage zwischen Deutschland und Kanada. Eine pünktliche Rücksendung? So gut wie unmöglich. Blieb nur ein Kurierdienst. Zum ersten Mal gab es dafür in Kanada eine Unterstützung durch die Auslandsvertretungen – allerdings erst auf Nachfragen und nach Beschwerden. Wäre die Wahl nicht vorgezogen worden, hätte es dieses Angebot auch nicht gegeben. Doch es half nichts.
Und das Risiko bleibt trotzdem
Selbst die Botschaften gaben keine Garantie ab, dass die Wahlunterlagen rechtzeitig ankommen. Wer sich privat um eine Expresszustellung bemühte, musste tief in die Tasche greifen: 100 bis 150 kanadische Dollar (rund 67 bis 100 Euro), nur um das demokratische Grundrecht auf Wählen wahrzunehmen. Eine Frechheit! Und das Risiko blieb trotzdem bestehen: Deutschland wählt traditionell sonntags – kommt die Stimme per Expresskurier zu spät an, ist alles umsonst.
Die Antworten der zuständigen Behörden, an die ich mich wandte, waren ebenso ernüchternd: Die Bundeswahlleiterin verwies auf die lokalen Wahlbehörden, das Konsulat auf private Versandmöglichkeiten. Und ich? Mir wurde empfohlen, mich an den Petitionsausschuss des Bundestags zu wenden, falls ich eine Gesetzesänderung wünsche. Dazu stellen sich mir einige grundsätzliche Fragen:
Wahlrecht? Ja. Aber nicht wirklich.
Rein rechtlich sind auch Auslandsdeutsche nach Paragraf 12 des Bundeswahlgesetzes (§12 BWahlG) wahlberechtigt, wenn sie mindestens drei Monate ununterbrochen in Deutschland gelebt haben und dieser Aufenthalt nicht länger als 25 Jahre zurückliegt oder sie anderweitig mit den politischen Verhältnissen vertraut sind. Doch was bringt ein Recht, das sich faktisch nicht ausüben lässt? Mein LinkedIn-Post zu diesem Thema löste eine Flut von Zuschriften frustrierter Wahlberechtigter aus, denen ihre Stimme ebenfalls faktisch genommen wurde. Ich bin also nicht allein. Doch warum wird das Problem nicht endlich angegangen?
Warum kann Deutschland keine digitale Wahllösung anbieten?
Andere Länder haben längst praktikable Modelle eingeführt: Franzosen, Brasilianer oder Polen können in den Auslandsvertretungen einfach mit ihrem Pass wählen. Estland bietet seit 20 Jahren ein Online-Verfahren an. Deutschland jedoch winkt ab: "Der Aufwand sei nicht gerechtfertigt", erfahre ich beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages. Dass sich Wahlunterlagen nach dem Versand nicht einmal online verfolgen lassen, geschweige denn digital eingereicht werden können, zeigt, dass Deutschland beim Thema digitale Wahlen in der Steinzeit verharrt. Online-Banking? Kein Problem. Steuererklärung? Geht digital. Aber seine Stimme bei einer Wahl abgeben? Undenkbar.
Die Konsequenz daraus?
Deutschland verweigert Zehntausenden seiner wahlberechtigten Bürger (geschätzt drei bis vier Millionen leben derzeit im Ausland) die Teilnahme am demokratischen Prozess. Menschen, die in aller Regel wissen, was es heißt, als Ausländer in einem fremden Land zu leben. Menschen, die wahrscheinlich eine fundierte Einstellung zum Thema Migration und Zuwanderung haben und die auf das politische Geschehen in ihrer Heimat mit einem frischen Blick, dem Blick von außen, schauen.
Nachdem das Ergebnis dieser Bundestagswahl feststeht, tauchen schon die ersten Klagen auf. So scheiterte etwa das BSW nur knapp an der Fünfprozenthürde. Einige fragen jetzt, ob das vielleicht an den fehlenden Stimmen der Auslandsdeutschen gelegen haben könnte. Es drohen Verfassungsklagen. Das hätte man sich wohl alles ersparen können.
Wir leben in einer Welt, in der nahezu alles digital funktioniert – aber ausgerechnet ein demokratisches Grundrecht bleibt an Papier, Postlaufzeiten und Bürokratie hängen.
Mein Appell: Schluss mit den Ausreden!
Es ist an der Zeit, dass Deutschland seine Wahlprozesse modernisiert. Die Einführung digitaler Lösungen und die Möglichkeit der Stimmabgabe in Auslandsvertretungen wären erste, notwendige Schritte, da wir ja wissen, dass digitale Lösungen länger auf sich warten lassen. Eine Demokratie, die ihre eigenen Wahlberechtigten systematisch von der Wahl ausschließt, hat ein Problem – und das liegt nicht bei uns, sondern bei einem System, das sich weigert, in der Gegenwart anzukommen.
Ich frage mich, wie lange sich die Parteien der Mitte das noch leisten können, auf Millionen von Stimmen einfach zu verzichten. Vor jeder Wahl hören wir, dass jede Stimme zählt. Doch die der Auslandsdeutschen offenbar nicht. Deswegen mein Appell: Lasst uns laut werden! Damit sich so etwas wie bei dieser Wahl nicht noch einmal wiederholt.
Die in Gastbeiträgen geäußerten Ansichten geben die Meinungen der Autoren wieder und entsprechen nicht notwendigerweise denen der t-online-Redaktion.
- Eigene Überlegungen
- Anfrage an die Bundeswahlleiterin
- Anfrage an das deutsche Konsulat in Toronto
- Anfrage an das zuständige Wahlbüro in Winsen (Luhe), Niedersachsen
- bundestag.de: Wahlrecht für Auslandsdeutsche und Zulässigkeit einer Urnenwahl in deutschen Auslandsvertretungen