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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Annalena Baerbock Ist das ihr bisher größter Fehler?
Die EU-Staaten wollen das Asylrecht massiv verschärfen. Weil die Bundesregierung dabei mitmacht, stürzen die Grünen erneut in eine Identitätskrise. Die Kritik an der Führung wächst.
Annalena Baerbock ist 10.000 Kilometer weit entfernt, als am Donnerstagabend in Deutschland ein Sturm losbricht. Ein Sturm der Entrüstung, der Wut, der Fassungslosigkeit. Ihre Grünen sind in Aufruhr. Und im Zentrum des Sturms befindet sich: Baerbock selbst.
Die Außenministerin reist gerade durch Kolumbien, als sie die Nachricht aus Europa erreicht, die den ganzen Ärger ausgelöst hat: Die Mitgliedstaaten der EU haben sich auf eine massive Verschärfung des Asylrechts verständigt. Schon an den Außengrenzen sollen künftig viele Menschen abgewiesen werden. Sie sollen in Lagern untergebracht werden und ein Schnellverfahren durchlaufen. Auch Familien mit Kindern. Weil das Europaparlament mitentscheidet, wird die finale Einigung noch Monate dauern.
Aber es ist schon jetzt ein grüner Albtraum.
Annalena Baerbock weiß, dass sie nun reagieren muss, auch wenn sie gerade weit weg ist. Die ersten Wortmeldungen aus ihrer Partei sind verheerend. Baerbock wirft ihre Pläne um, lässt eine Podiumsdiskussion zu feministischer Friedenspolitik und zum kolumbianischen Friedensprozess sausen. Sie wolle in Videoschalten der Partei "mit Verve" für die Asylreform werben, heißt es laut Reporterinnen aus ihrem Umfeld.
In Deutschland tippt die Grüne Svenja Borgschulte in ihr Twitter-Profil: "Kann sie sich sparen."
Die Grünen haben in den vergangenen Monaten schon häufiger mit sich und der Ampelkoalition gehadert. Sie mussten Kohlekraftwerke länger laufen lassen, sogar einige Atommeiler. Sie besiegelten das Ende des Dorfes Lützerath im Rheinischen Kohlerevier und exportierten Waffen. Nicht nur in die Ukraine, sondern auch nach Saudi-Arabien.
Es waren schmerzhafte Kompromisse, die allesamt an der Identität der Grünen kratzen. Ist der Asylkompromiss nun der eine Kompromiss zu viel? Am Donnerstag jedenfalls scheint erst einmal etwas zerbrochen zu sein bei vielen Grünen: die Zuversicht, dass es mit ihnen in der Regierung immer besser wird. Und das Vertrauen in die Führungsriege. Besonders in Annalena Baerbock.
Videoschalten bis weit nach Mitternacht
In Deutschland ist es ungefähr 21.30 Uhr, als sich Baerbock aus Kolumbien in eine Videoschalte der Bundestagsfraktion einwählt. Weit über eine Stunde lang wird sie sich hier ihren Leuten stellen. Anschließend gibt es eine weitere Schalte mit den Partei- und Fraktionschefs aus den Ländern. Es ist weit nach Mitternacht deutscher Zeit, als die Grünen in Deutschland auseinandergehen.
Grüne, die dabei waren, werden das, was sich manche dort von der Seele reden, später als heftig beschreiben, als ziemlich vernichtend. Von Enttäuschung ist die Rede, auch von Unverständnis. Es gibt viele Wortmeldungen mit harter inhaltlicher Kritik, aber eben auch mit Kritik an Baerbock und der Führungsriege persönlich.
Beide Schalten beginnen mit einer Rechtfertigung Baerbocks. Die Außenministerin hat den Kompromiss genauso mitverhandelt wie Innenministerin Nancy Faeser von der SPD, also ist sie auch genauso verantwortlich, so sehen es viele Grüne. Teilnehmern zufolge verklärt Baerbock das Ergebnis zwar nicht. Aber sie verteidigt es.
Vor allem mit zwei Argumenten rechtfertigt sich die Außenministerin demnach: Sie sagt, durch den Kompromiss sei Schlimmeres verhindert worden. Etwa Lager und Asylverfahren in anderen Staaten, auf die die EU kaum Einfluss hätte. Und Baerbock argumentiert, der Zusammenhalt Europas sei sonst gefährdet gewesen – was die Rechten in Europa gestärkt hätte.
Habeck stärkt Baerbock den Rücken
Nach Baerbock sprechen zunächst die Spitzen der Partei und der Fraktion. Sie hatten schon kurz nach der Entscheidung vorbereitete Stellungnahmen verbreitet, die die Zerrissenheit der Grünen dokumentieren, bewusst dokumentieren sollen.
Der eine Parteichef Omid Nouripour und die eine Fraktionschefin Britta Haßelmann stützen die Einigung. Die andere Parteichefin Ricarda Lang und die andere Fraktionschefin Katharina Dröge halten sie für einen Fehler. Es ist nicht zufällig die Spaltung in die alten grünen Lager: Die Realos stärken ihrer Annalena Baerbock den Rücken, die Linken laufen Sturm.
Zumindest bei den Wortmeldungen in der Bundestagsfraktion sortieren sich die Rückmeldungen zum großen Teil genau nach den Lagern, wie Teilnehmer berichten. Realos wie die frühere Landwirtschaftsministerin Renate Künast, die Parlamentarische Staatssekretärin Franziska Brantner oder die Rechtspolitikerin Manuela Rottmann betonen etwa die schwierige Verhandlungssituation in Brüssel und die Mühen des Regierens.
Auch Vizekanzler und Realo Robert Habeck unterstützt Baerbock in der Videoschalte demnach. Vor allem mit der auch von ihr vorgetragenen Warnung vor einem sonst drohenden Rechtsruck.
Menschenrechte nicht nur in China
Doch die Zahl der Kritiker, der Enttäuschten, der Wütenden, sie ist größer an diesem Abend. Am linken Parteiflügel wird betont, dass es nicht nur Linke sind, die protestieren, sondern auch Realos, besonders junge Realos. In der zweiten Schalte mit den Ländervertretern wird das angeblich noch stärker deutlich als in der Bundestagsfraktion.
Viele verstehen nicht, wie Baerbock die jahrelang erarbeitete Programmatik der Partei bei einem für die Grünen so wichtigen Thema so einfach über Bord werfen konnte. Gerade Baerbock, die sich früher selbst der grünen Vorliebe für die tage- und nächtelange Arbeit an Anträgen und Beschlüssen hingegeben hat.
Sie verstehen nicht, wie Baerbock eine rote Linie nach der anderen aufgeben konnte. Selbst die, Familien und Kinder auszunehmen, ist überschritten. Mancher findet quasi keine einzige grüne Position im Kompromiss mehr wieder. Baerbock, die immer betone, sich für Menschenrechte einzusetzen, müsse das dann eben auch tun, wenn es darauf ankomme, sagt jemand. Nicht nur in China, sondern auch in Europa.
Andere halten Baerbocks Argument, mit diesem Kompromiss einen Rechtsruck in Europa zu verhindern, für gefährliche Augenwischerei. Sie sehen im Kompromiss der EU-Mitgliedstaaten sogar das Gegenteil: Ein Einknicken vor den Rechten, den Viktor Orbáns dieser Welt, das am Ende nur den Rechten und ihren Positionen nutze.
"Baerbock muss jetzt angezählt werden"
Mancher glaubt, Baerbock habe die Lage komplett unterschätzt und Warnungen von Fachpolitikern nicht ernst genommen. Warnungen vor dem, was sich da zusammenbraut in der europäischen Asylpolitik.
Am linken Flügel spricht man von einem eindeutigen Fehler der Außenministerin, mancher spricht von ihrem bisher größten. Das ist auch deshalb so bemerkenswert, weil die Grünen bei Konflikten eigentlich ein Schweigegelübde leben. Kritik wird, wenn überhaupt, intern geäußert. Nach außen verbreiten die Grünen meist gut abgestimmte Botschaften der Geschlossenheit und Zuversicht.
Doch was, wenn trotz dieser Disziplin am Ende immer wieder Politik herauskommt, die mit den Grünen und ihrer Programmatik so gar nichts mehr zu tun hat?
Die Grünen stellen sich gerade die ganz grundsätzlichen Fragen. Svenja Borgschulte, die Baerbocks Rechtfertigungen in den Videoschalten für entbehrlich hielt, schreibt am Donnerstagabend auf Twitter noch andere Dinge. Borgschulte ist keine Bundestagsabgeordnete, aber sie ist Chefin der Bundesarbeitsgemeinschaft Flucht und Migration der Grünen. Dem Gremium, in dem die Basis am Programm mitarbeitet.
Borgschulte schreibt: "Annalena Baerbock muss von den Grünen jetzt angezählt werden. Das darf eine selbsternannte Menschenrechtspartei nicht dulden."
"Ein schäbiger Kompromiss"
Dass es dazu kommt, erscheint zwar unwahrscheinlich. Es würde die Grünen und mit ihnen die Bundesregierung in eine tiefe Krise stürzen. Doch klar ist, dass die Sache für die Partei mit dem Donnerstagabend nicht abgeschlossen ist. Schon vor der Einigung war klar, dass der Länderrat, der kleine Parteitag am 17. Juni, über die Migrationspolitik diskutieren wird. Die Debatte dürfte nun wilder werden als ohnehin gedacht.
Und noch, so wiederholen jetzt auch die Kritiker gebetsmühlenartig, ist die Asylreform auch nicht ganz durch. Das Europaparlament muss nun im sogenannten Trilog mit den Mitgliedstaaten darüber verhandeln. Die Grünen kündigen schon jetzt Widerstand an.
"Das ist ein schäbiger Kompromiss, der zu massiven Asylrechtseinschränkungen führen würde", sagte der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, Rasmus Andresen, t-online. "Wir werden jetzt versuchen, im Europaparlament so viel wie möglich für die Menschenwürde und das Grundrecht auf Asyl herauszuholen."
Doch auch Andresen gibt zu: "Es wird schwierig, die Einigung der Mitgliedstaaten hat die Arbeit des Parlaments massiv erschwert. Wenn es keinen guten Kompromiss gibt, muss das Parlament die Reform stoppen."
- Eigene Recherchen und Gespräche
- twitter.com: Mad_Rosalice
- twitter.com: an_maurer
- stern.de: In Kolumbien wird Annalena Baerbock von der Asyl-Einigung kalt erwischt – der Partei droht ein Großkonflikt